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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Marrakesch erlebt hatte. Judit sah mich als das, was ich war, ein junger Unbekannter, der ihr auf die Pelle rückte. Vielleicht hatte sie Angst; sie sagte, die Stimmung nach dem Attentat sei grässlich gewesen, der von Menschen wimmelnde Platz, wo plötzlich alle so taten, als wäre nichts vorgefallen, und es doch besser wussten, wo plötzlich die große Maschine der Touristenfallen vom Tod aufgehalten worden war.
    Und sie sagte tatsächlich, weißt du, ich habe in Marrakesch deinen Freund Bassam gesehen, der, der neulich Abend dabei war.
    Bei diesen Worten sah sie mir in die Augen. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich ahnte, was das bedeutete. Auf alle Fälle war es unvorstellbar. Unvorstellbar der Gedanke, dass sie ein paar Stunden nach dem Attentat einem derjenigen begegnet sein könnte, die diese Bombe in dem Café gezündet hatten. Ich selbst konnte es nicht fassen, trotz der Indizien, die ich besaß. Dass dieses Attentat wirklich stattgefunden hatte, jenseits der Bilder im Fernsehen, war undenkbar. Dass Bassam daran beteiligt sein konnte, ohne mir irgendetwas darüber gesagt zu haben, war im Grunde unmöglich.
    Judit hat nicht gesagt: »Eigenartig, dass er in Marrakesch war, davon hat er gar nichts gesagt, als wir uns am Abend vorher trafen.«
    Ich begleitete sie in ihre Pension. Judit war reserviert, auf unserem Weg dorthin sprach sie kaum, ich versuchte, die Stille zu übertönen, indem ich die ganze Zeit über redete, was gewiss keine gute Idee war. Meine Geschwätzigkeit schien sie nur noch mehr in eine schweigende Verärgerung zu treiben.
    Manchmal spürt man, dass einem eine Situation entgleitet, dass die Dinge den Bach runtergehen; man bekommt Angst, und statt in Ruhe hinzusehen und den Versuch zu machen, zu verstehen, reagiert man wie ein Hund, der sich in Stacheldraht verfangen hat und sich verzweifelt schüttelt, bis er sich die Kehle zerschnitten hat.
    Meine Raserei war Panik, sie hatte kein anderes Ziel, als Judits Kühle zu bezwingen. Ich nahm ihr Geschenk ins Visier, das Buch von Choukri, von dem ich fünf Seiten gelesen hatte.
    »Es ist eine Schande«, sagte ich, »wie kann ein marokkanischer Muslim solche Dinge schreiben, es ist beleidigend.«
    Judit antwortete nichts, wir kamen zum Grand Socco und gingen dann durch das Altstadttor. Sie warf mir gerade mal einen höflichen Blick zu, der wie eine heftige Ohrfeige bei mir ankam.
    Ich verstieg mich zu einer idiotischen Schmährede auf den Roman, den ich nicht gelesen hatte, und seinen Autor, einen erbärmlichen Typen, einen des Lesens unkundigen Bettler, einen Degenerierten, und je mehr ich mit Absurditäten um mich warf, desto mehr hatte ich das Gefühl, in einem Meer von Mist zu versinken, unterzugehen, während die noch immer so hübsche Judit über Wasser ging. Ich schwitzte, während ich den Rollenkoffer zog, letztlich hatte sie doch keinen Rucksack, sondern einen beschissenen Rollenkoffer, und ich hatte aus Ritterlichkeit darauf bestanden, ihn zu ziehen. Ich war außer Atem, konnte nur weiter schwadronieren, wurde fahrig, mir schwirrte zu viel durch den Kopf: Das Hin und Her meiner unkoordinierten Bewegungen brachte mich immer weiter weg von der rettenden Boje. Ich spürte, dass sie nur noch eines wollte, in ihrem Hotel ankommen, um mich loszuwerden, sie wollte die lange Zugfahrt vergessen, Marrakesch vergessen, mich vergessen und ins Flugzeug steigen, und in meinem Innersten, im tiefsten Inneren, wusste ich, dass sie recht hatte. Ich wollte literarisch gebildet und interessant erscheinen, ich schwafelte weiter, schwadronierte, ganz Chauvinist, ich sagte, du solltest lieber Al-Mutanabbi oder Al-Jahiz lesen, das ist richtige arabische Literatur, Choukri ist nichts für Mädchen. Damit hatte ich mir eine Kugel nicht in den Fuß, sondern geradewegs in den Kopf geschossen, dieses Mal war Judits Blick der Gipfel an Verachtung. Zerstreut nickte sie, und wenn ich ein ganz klein wenig mutiger gewesen wäre, hätte ich den Koffer in die Ecke geschmissen, wäre stehen geblieben, hätte einen gewaltigen Fluch ausgestoßen und mich entschuldigt, stopp, zurück auf Start, wir tun so, als hätte ich von Beginn an nichts gesagt, als würde sich bei mir nicht alles um dich drehen, als wäre in den vergangenen zwei Tagen nichts geschehen, als wäre in Marrakesch nichts explodiert, als ob uns die Brände nichts angingen.
    »Mein Haus ist gestern abgebrannt«, sagte ich völlig unerwartet.
    Sie wandte mir ihr Gesicht zu, lief aber weiter.
    »Ach ja?«
    Und

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