Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
Vom Netzwerk:
Ergebnisse übereinander, was eine zuverlässige Datei ergab, die an den Auftraggeber geschickt werden konnte. Die Kunden von Monsieur Bourrelier waren völlig unterschiedlich: Verlagshäuser, die zur digitalen Nutzung übergingen oder einen alten Fundus wiederauflegen wollten, Ministerien, die tonnenweise Schriftstücke zu verwalten hatten, Städte, Rathäuser, deren Archive aus den Fugen platzten, Universitäten, die alte Tonbänder von bedeutenden Vorlesungen und Konferenzen zur Verschriftung schickten – man hatte den Eindruck, ganz Frankreich, der gesamte Wortschwall Frankreichs, landete hier in Afrika; das ganze Land kotzte Sprache über Monsieur Bourrelier und seine Neger aus. Man musste natürlich schnell tippen, aber nicht zu schnell, denn wir zahlten die Korrekturen aus eigener Tasche: Wenn bei den übereinanderliegenden Dateien ein Fehler zutage trat, wurde das fragliche Wort oder der fragliche Satz überprüft und der Tippfehler von meinem Gehalt abgezogen. Das erste Buch, das ich abschrieb, war ein Reisebericht über die afrikanischen Küsten vom Ende des 18. Jahrhunderts; es handelte von Piraten und Sklaven. Es musste einen Flöz mit Werken dieser literarischen Gattung geben, denn danach war ich in Russland unterwegs, tippte Ein Franzose in Sibirien von 1872; man hätte meinen können, das sei ein abwechslungsreicher Job, aber er war vor allem ermüdend, man musste die Rechtschreibung beachten, die Eigennamen; man verlor sich im Fleisch der Worte, in den Buchstaben, den Sätzen, in unmittelbarer Nähe zum Text, und manchmal war ich außerstande zu sagen, wovon diese oder jene Seite handelte, die ich gerade abgeschrieben hatte. Wenigstens wird mein Französisch nach einigen Monaten dieser Aufbereitung tadellos sein, dachte ich, zweifellos zu Recht, doch es war vor allem frustrierend – ich hatte natürlich nicht die Zeit, die unbekannten Wörter im Wörterbuch zu suchen; ich schrieb sie so ab, wie sie waren, ohne sie zu verstehen, und viele Tippfehler rührten von meinem Unverständnis, meiner Unkenntnis dieses oder jenes Begriffs her.
    Monsieur Bourrelier war ziemlich nett zu mir; er sagte oft, ah, tut mir leid, immer noch keine Krimis am Horizont, aber wenn wir je welche bekommen, kriegst du sie, das schwöre ich dir. Ich glaube, ich war ein ziemlich guter Mitarbeiter, ich versuchte gewissenhaft zu sein, und ich hatte kaum etwas anderes zu tun.
    Eines Tages brachte mir mein Eifer ein vergiftetes Geschenk ein: Als Monsieur Bourrelier morgens ins Büro kam, rief er mich zu sich. Er war gut gelaunt, er scherzte wie ein Kind, sagte, er habe soeben eine ausgezeichnete Nachricht erhalten. Eine großartige Nachricht. Einen sehr großen Auftrag vom Verteidigungsministerium. Es handele sich um die Erfassung der Personalkartei von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Ein sehr umfangreicher Vertrag. Wir hatten uns an der Ausschreibung beteiligt und den Auftrag erhalten. Die Karteikarten sind handgeschrieben, es ist unmöglich, sie automatisch einzulesen, man muss sie von Hand erfassen. Wir beginnen mit den Toten.
    »Leben denn noch welche?«, fragte ich naiv.
    »Nein, nein, sie sind natürlich alle tot, es gibt keine heute noch lebenden französischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg mehr. Ich meine nur, wir beginnen mit denen, die mit einem ›Gestorben für Frankreich‹ gekennzeichnet sind und die ein extra Kontingent von Karteikarten bilden.«
    »Und wie viele sind es?«
    »Eine Million dreihunderttausend Karteikarten insgesamt. Danach kommen die Versehrten und die, die davonkamen, das wird spaßiger.«
    Verdammte eine Million dreihunderttausend Tote, man macht sich kein Bild davon, was das heißt, aber ich kann Ihnen versichern, das gibt Arbeit für die kilometrische Erfassung. Gigabyte für Gigabyte gescannte Karteikarten, ein Spezialprogramm, um die Daten einzugeben, Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort, Personenkennziffer, Datum, Ort und Art des Todes, genau so, Todesart, die hielten sich damals nicht mit Schnörkeln auf, wo denken Sie hin, es gab Hunderttausende Karteikarten, die übertragen werden mussten. Alle handgeschrieben, mit Tinte in Schönschrift: Achille Brun, Soldat, 138. Infanterie-Regiment, Gestorben für Frankreich am 3. Dezember 1914 im Hospital von Châlons-sur-Marne, Todesart: Kriegsverwundung (gestrichen), Thyphus (hinzugefügt), geboren am 25. Januar 1891 in Montbron, Charente; Ben Moulloub, Belkacem ben Mohammad ben Oumar, Orden zweiter Klasse, 2. Algerisches Schützenregiment,

Weitere Kostenlose Bücher