Straße der Diebe
Gestorben für Frankreich am 6. November 1914 in Soupir, Aisne, Todesart: Gefallen bei Feindkontakt, geboren 1884 in (unleserlich), Bezirk Constantine, und so weiter, eine Million dreihunderttausend Karteikarten, selbst mit dem Spezialprogramm brauchte man gut eine oder zwei Minuten pro Karte, besonders um die Namen unbekannter Käffer, algerischer Douars, senegalesischer Dörfer, französischer Weiler zu entziffern, von denen ich nie gehört hatte; einige Soldaten sind mir in Erinnerung geblieben wie jener Achille Brun und dieser Belkacem, und es war ein seltsamer Gedanke, dass diese Gespenster von Frontsoldaten eine postume Reise nach Marokko, in meinen Computer nach Tanger machten.
Wir teilten die Arbeit zwischen uns auf, meine Kolleginnen (meistens Studentinnen der französischen Literatur oder junge Stenotypistinnen) und ich: hundertfünfzig oder zweihundert Karteikarten am Vormittag und mindestens sechzig Buchseiten am Nachmittag. Das Problem war, dass man einen Auftrag nicht für einen anderen aufgeben konnte; alles musste gleichzeitig erledigt werden: Die Texterfassung der Memoiren von Casanova für einen Verlag in Quebec war mindestens ebenso dringend wie die im Feindkontakt Gefallenen. Die Geschichte meines Lebens bestand aus dicken, endlos langen Bänden. Ich gestehe, dass ich großen Gefallen daran fand, trotz der schlaflosen Nächte, die ihre kilometrische Erfassung kostete. Dieser Casanova war witzig und sympathisch, galant, gerissen; Tag für Tag juckte ihn der Schwanz schon beim Aufwachen, und folglich jagte er immer der Heilung seiner Geschlechtskrankheiten hinterher, wofür er sich offenbar in keinster Weise schämte; für ihn hatten der Leib, Frauen und die Jugend nichts Beschämendes. Seine Intelligenz war von einer Ironie, die mich an Ibn Hischam und Abu l-Fath al-Iskandari, die Helden al-Hamadhanis, erinnerten – nur ging sie wesentlich weiter, das ist sicher. Es ist eines der wenigen Bücher, die ich beim Abschreiben wirklich gelesen habe: mehr als drei Monate Arbeit, pausenlos.
Ich habe mich immer gefragt, wie viel Jean-François Bourrelier für unsere Dienste berechnete und was folglich sein Gewinn war; ich habe mich nie getraut, ihn danach zu fragen. Mit Sicherheit haben die Bei-Feindkontakt-Gefallenen oder Monsieur Casanova keinen Cent kassiert, und ich selbst habe, nachdem die Abrechnungen geprüft waren (Abzüge für Korrekturen etc.), selten mehr als fünfhundert Euro im Monat gesehen, für mindestens sechzig Wochenstunden Arbeit, was ein außerordentliches Gehalt für einen jungen Arbeiter wie mich war, aber weit entfernt von den versprochenen zehntausend Dirham. Immer wenn Zahltag war, machte Monsieur Frédéric ein betrübtes Gesicht, er sagte, ah, es war viel zu korrigieren, oder, also diesen Monat ist es nicht umwerfend, aber im nächsten machst du es besser, du musst dich an diese Karteikarten der Gefallenen gewöhnen und das Tempo steigern.
Ich erzählte Judit alles, was ich erlebte, schrieb endlose Briefe, das war meine Erholung, jeden Abend, dabei hätte ich den Computer und besonders seine Tastatur hassen müssen, aber ich schrieb ausführlich an Judit, um ihr zu erklären, was wir den Tag über gemacht hatten, Casanova, die Frontsoldaten und ich; ich erzählte ihr von Achille Brun, dem Typhuskranken, und vom in Soupir gestorbenen Belkacem, von Casanova und Tireta, die in Gesellschaft zweier Damen von einem Fenster aus der Hinrichtung eines Schwerverbrechers auf der Place de Grève in Paris beiwohnten, ohne mich so weit vorzuwagen, ihr die schlüpfrigen, aber belustigenden Einzelheiten des Fehlschusses von Tireta zu schildern.
Ich begann auch, ihr Gedichte zu schreiben, meist auf Französisch, und ich plünderte dazu Nizar Kabbani; die französische oder spanische Dichtung kam mir dürr und wenig blumig vor. Ich beendete meine Briefe immer mit einem Vers
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Die Liebe, meine Liebste, ist ein schönes Gedicht, auf den Mond gestickt , und so weiter. Judit verriet mir ihre Gefühle nicht, aber ich spürte in ihren manchmal auf Französisch, manchmal auf Arabisch verfassten Mails, dass ihr unsere Korrespondenz etwas bedeutete; sie erzählte mir von ihrem Leben in Barcelona, ihrem Alltag, ihrem Ärger über die Niveaulosigkeit ihrer Seminare, ihrer Langeweile an der Universität, wo selbst die Professoren die Texte, die sie unterrichteten, zu verachten schienen wie schlechtes Latein. Durch sie begann ich, die kränklichen Arabisten in Kolonialshorts zu hassen, die täglich den
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