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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte; ich hätte hinzufügen können: »Gestern bin ich im Puff gewesen und konnte nicht bumsen«; meine Augen brannten, bestimmt vom Schweiß. Ich war ein verstörtes Kind, das eine fremde Ausländerin um Hilfe bat.
    »Was ist passiert?«
    »Keine Ahnung, alles ist verbrannt. Ich habe mir ein Zimmer in einer Pension genommen.«
    Ihre Augen verrieten mir, dass sie nicht wusste, ob sie es glauben sollte; mit einem Mal ging mir auf, wie unwirklich meine Situation war, keine Familie, keine Freunde, kein Haus mehr, allein in Tanger, der abdriftenden Stadt.
    »Ist eine lange Geschichte.«
    »Kann ich mir denken.«
    Sie schaute stur vor sich hin; mir schien, als beschleunigte sie ihre Schritte.
    Natürlich hatte alles mit der Ursünde begonnen, Meryem auszuziehen, aber jetzt schien es mir ein internationales Komplott geworden zu sein, eine Ungeheuerlichkeit, eine Verirrung wie die monströsen Kinder inzestuöser Paare.
    »Wir sind da.«
    Es lag Erleichterung in unseren wie aus einem Mund gesprochenen Worten; Judits Hand umklammerte den Koffer, den ich am Griff festhielt, als fürchtete sie, ich könnte mich mit ihm davonmachen.
    »Danke, dass du mich vom Bahnhof abgeholt hast, das war nett.«
    Sie wirkte aufrichtig. Aufrichtig und erschöpft.
    »Gern geschehen, war doch selbstverständlich.«
    »Nun, dann: Ilâ-l-liqâ’ . Bis zum nächsten Mal.«
    Ich verabschiedete mich gleichfalls, ohne Handschlag, Küsschen oder sonst etwas, und ging davon.
    Ich muss selbst völlig fertig gewesen sein, ausgelaugt, psychisch zerstört, denn plötzlich fing ich an zu weinen. Es begann auf der Straße; das Brennen in meinen Augen wurde stärker, ich spürte etwas Nasses auf meinen Wangen wie ein Kind, das Nasenbluten hat und es erst merkt, wenn plötzlich die Hand rot vom Blut ist. Es war kein Blut. Es war Wasser, Tränen, die auf die Wangen tropften, und sooft ich sie mit dem Ärmel wegstreifte, sie flossen immer wieder, in Hülle und Fülle, ich schämte mich zu Tode, so auf der Straße zu flennen, in großen Sätzen eilte ich die Treppe meiner Pension hinauf, ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen, drehte den Schlüssel um, hielt mein Gesicht unter den Wasserhahn, es war nichts zu machen, ich schluchzte wie ein Kind; ich fiel aufs Bett, vergrub mein Gesicht im Kopfkissen, um diese Tränen zu stoppen, ich ließ meinem Kummer freien Lauf. Ich muss eingeschlafen sein. Eine oder zwei Stunden später hatte ich einen Brummschädel wie ein Boxer nach einem ungleichen Kampf, geschwollene Lider, rote Augen, aber ich fühlte mich besser. Eine Dusche, und man würde nichts mehr davon sehen.
    Der geöffnete Umschlag lag auf dem Boden neben meinem Bett; die alte Nachricht von Bassam, die mir seine Mutter sicher irrtümlich untergejubelt hatte, war auf einen karierten Zettel aus einem Schulheft geschrieben; sie fing an mit
    ;
    darin befand sich zusammengefaltet Meryems Brief an mich, den er die ganze Zeit über aufbewahrt hatte. Ich begriff, warum er ihn mir nicht gegeben hatte; er hatte sich bestimmt mit dem Gedanken herumgeschlagen, ihn zu vernichten, damit ich bis ans Ende meiner Tage nicht erfuhr, was mein Herz erraten hatte, dass sie nicht mehr lebte, und ich schaffte es nicht einmal zu sagen, dass sie tot war, jawohl, ich hatte die Wahrheit vor Augen, sonst gab es nichts mehr, ich hatte das Universum zertrümmert, der Zorn Gottes hatte mich getroffen, seine Wut, seine mächtige, blinde Wut, die gerade alles um mich herum zerstörte, ich fühlte mich winzig in meinem Hotelzimmer, verloren am Puls der Welt, auf dem Balkon begann ich wieder zu weinen, während ich diesen idiotischen Schiffen zusah, die die Meerenge überquerten.

Man erinnert sich nie vollständig, nie wirklich; mit der Zeit rekonstruiert man im Gedächtnis die Erinnerungen, und heute bin ich so fern von dem jungen Mann, der ich war, dass es mir unmöglich ist, die starken Empfindungen von damals, die heftig auf mich einwirkenden Gefühle genau wiederzugeben; heute, scheint mir, würde ich solchen Schlägen nicht standhalten, würde ich dabei kaputtgehen. Eigentlich dürfte man Erschütterungen von solcher Gewalt nicht überleben.
    Obwohl ich ganz sicher wusste, dass Meryem tot war, war sie nie so lebendig für mich, denn in ihrer Schrift hörte ich ihre Stimme; der Brief war ein Hilferuf, der in der Finsternis, in der Wüste verhallte. Ein Schrei, der direkt aus den Herkules-Grotten kam, die zweifellos direkt in die Hölle

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