Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
Vom Netzwerk:
Ohren neben dem Flugzeug hergehen, das zurücksetzte, es sah aus, als führte er einen Hund an der Leine, es war total merkwürdig; als der Airbus über die Startbahn rollte, war ich überrascht vom Motorenlärm und der Beschleunigung, ich dachte, das Ding würde es nie schaffen abzuheben, ich empfand eine leichte Übelkeit, als es sich endlich vom Boden löste, und war absolut begeistert, als bei einer Schräglage, die mich aufgrund des Winkels der Kurve gegen das Fenster presste, Tanger und die Meerenge unter mir auftauchten, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
    Judit war Anfang Juni noch einmal für drei Tage gekommen, drei Tage Glück, vollkommener Eintracht und Lust, die mich trauriger und einsamer zurückließen denn je, als sie zu Ende waren und ich zu meinen Mitbewohnern zurückgekehrt war – ich hatte sie nicht zu mir einladen wollen, erstens, weil ich nur ein Einzelbett hatte, und außerdem war ich eifersüchtig, ich wollte nicht, dass ein anderer Marokkaner sie ansprach und schon gar nicht die drei Irren, die mein Alltagsleben teilten. Allein der Gedanke, sie könnten Judit im Pyjama sehen, womöglich nach ihr im Badezimmer schielen, verursachte mir Mordgedanken. Die Vorstellung, nicht der einzige Araber Judits zu sein, machte mich verrückt. Ich wusste, dass sie vor mir bereits mehrmals verlobt gewesen war, wie sie es nannte, dass sie Kommilitonen, Freunde hatte, klar, aber diese Katalanen waren eine Extrakategorie in meinem Kopf. Mit mir war es etwas anderes. Ich war ihr Araber. Und ich wollte der einzige Araber in Judits Leben sein. (Daher hegte ich, wie ich zugeben muss, Befürchtungen wegen ihres Aufenthalts in Tunesien; ich stellte mir vor, dass sie das Ziel ständiger Avancen von Horden frustrierter junger Tunesier wäre; ich musste schließlich am besten wissen, was sie möglicherweise empfinden würden.)
    Ich hatte mich also abgerackert, um zwei nebeneinanderliegende Zimmer in einem kleinen Hotel zu finden – denn das marokkanische Gesetz, Weltmeister in Sachen gute Sitten, untersagt es, ein gemeinsames Zimmer zu nehmen, wenn man nicht verheiratet ist. Unsere Balkons gingen ineinander über, und wir waren nicht einmal gezwungen, über den Flur zu gehen, um uns zu treffen. Das war ziemlich lustig, hatte etwas Abenteuerliches. Aber ich schämte mich dennoch ein wenig, als Judit mich fragte, warum wir kein Doppelzimmer nehmen konnten, und ich ihr antworten musste, dass es daran lag, dass ich Marokkaner war: Wenn ich Ausländer gewesen wäre, hätte uns niemand damit genervt.
    Wir haben das Hotel in den drei Tagen nicht oft verlassen, außer für ein paar Ausflüge zum Kap Spartel, den Herkules-Grotten, ins Museum der Kasbah und auf den Friedhof von Marshan, um das Gab von Choukri zu besuchen; die Bemerkungen der Kellner, der Museumswärter oder sogar der Passanten, wenn sie mich mit Judit allein sahen, ermunterten mich nicht dazu, auszugehen: Es war eine Mischung aus Verachtung, Eifersucht und deftiger Vulgarität, nett wie ein Arschtritt, und am liebsten hätte ich mit einem Stinkefinger und einer gezielten Aussage zu den Schwestern oder Müttern der Passanten geantwortet. Mit Judit spazieren zu gehen bedeutete, an jeder Straßenecke von einer beträchtlichen Anzahl von Leuten symbolisch angerotzt zu werden, weil ich offensichtlich ein junger Marokkaner war, der in Gesellschaft einer Europäerin herumbummelte, ohne der sozialen Klasse jener Marokkaner anzugehören, die an den Privatstränden oder in den Hotelbars verkehrten und sich alles erlauben durften. Judit merkte es selbst, und ich spürte, dass es ihr für mich leidtat, was mich noch trauriger machte. Selbst an Choukris Grab hat uns ein Kretin meines Alters belämmert; er fragte mich auf Arabisch, was wir hier täten, was beim besten Willen eine merkwürdige Frage auf einem Friedhof ist – ich habe natürlich erwidert, wir seien gekommen, um uns zu beerdigen, dabei hätte ich ihm am liebsten gesagt, »wir kommen zu deiner Beerdigung, du Trottel«, aber das wagte ich nicht. Wer weiß, vielleicht meinte er es aufrichtig, vielleicht wollte er uns helfen.
    Ich war im Grunde genommen ein wenig ungehobelt geworden, glaube ich. Eingeschlossen in meine Bücher, in die Einsamkeit, in die Zweisamkeit mit Judit, hatte ich keinen Kontakt mehr zur Außenwelt, abgesehen von den drei Mitbewohnern, die man nicht wirklich als »Außenwelt« bezeichnen kann.
    In der Zwischenzeit hatte ich Das nackte Brot gelesen, und auch den nachfolgenden Roman Zeit der

Weitere Kostenlose Bücher