Straße der Diebe
besorgniserregend, vielleicht, weil ebenso gut ich das Opfer hätte sein können, Judit und ich, vielleicht, weil er auf meinem heimatlichen Terrain, hier und jetzt, stattgefunden hatte und nicht mehr nur ein wenn auch heftiges, so doch fernes Getöse war. Ich muss zugeben, lange Zeit hatte ich Angst, wenn ich mich in Tanger in ein Café setzte, Bassam könne mit einem Säbel in der Hand auftauchen.
Ich musste vermeiden, zu viel über diese Fragen nachzudenken, wenn ich nicht vollkommen paranoid werden wollte.
Glücklicherweise ließen mir die Gefallenen, Casanova und meine Gedichte für Judit wenig freie Zeit.
Deine Augen sind das letzte auslaufende Schiff, räumst Du mir einen Platz dort ein?
Denn des Herumirrens in den Häfen des Wahnsinns bin ich müde. Bleibe bei mir! Damit das Meer seine Farbe behält , und so weiter, wieder Nizar Kabbani. Meine Idee war es freilich, zu guter Letzt eigene Verse ohne die Hilfe meiner hervorragenden Ahnen zu verfassen, aber das war mühevoll. Mein Gedicht Nummer eins, das erste, das wirklich von mir war, lautete folgendermaßen:
Beginn der Hitzezeit
Hier bin ich
Ein unter seinem Ventilator verschwundener Entdecker
Ein Telefon
Ein Computer
Ein Amor aus Wachs, den ich tropfen sehe
Um meine Briefe zu versiegeln
Heute Abend werde ich Casanova lesen
Und dabei an dich denken
Ich werde in deinen Augen baden auf jeder Seite gibt es eine Frau
Die dir ähnlich sein wird
Jeden Abend
Gebe ich einen Kostümball am Ende der Welt
Für böse Gespenster wie dich
Judit hätte lieber arabische Gedichte von mir bekommen, immerhin ist es deine Sprache, sagte sie, die, die du am besten kennst, und natürlich hatte sie recht, aber es gelang mir nicht: Die arabische Dichtkunst ist unendlich viel schöner und komplexer als französische Verse; auf Arabisch kamen sie mir vor wie Halb-Kabbanis, Halb-Sayyâbs, wie Viertel-Ibn-Zaiduns; während ich mich auf Französisch sehr viel freier fühlte, da ich außer von Maurice Carême und Jacques Prévert in der Schule keine oder fast keine Gedichte gelesen hatte. Eines steht fest, das Ideal wäre es gewesen, auf Spanisch zu schreiben: Ich konnte mir gut vorstellen, eine Gedichtsammlung unter dem Titel El libro de Judit , Das Buch Judith, herauszubringen, wann, war noch nicht absehbar.
Um ein wenig rauszukommen, ging ich jeden Samstag in die Stadt, morgens in die Bibliothek des Cervantes-Zentrums und nachmittags in die des Institut Français, oder umgekehrt, und dazwischen hing ich in Cafés herum, um die Leute zu beobachten. Ich fühlte mich nicht allein, ich hatte bloß das Gefühl, nicht mehr zur Stadt zu gehören, dass Tanger mich verließ, sich davonmachte. Die Stadt rückte weg. Judit gab mir Hoffnung. Ich ahnte, dass ich Marokko verlassen würde, dass ich mich verändern, einen Teil des Unglücks und des Elends der Vergangenheit hinter mir lassen, die Bomben, die Säbel, meine Toten vergessen würde; dass ich die Gespenster der beim Feindkontakt Gefallenen vergessen würde und die vielen Stunden, in denen ich endlos mit dem Abtippen gegenstandsloser Namen beschäftigt war, und zu guter Letzt, dachte ich, würde ich in einem Land von Bord gehen, das nicht von Vorbehalten, Armut und Angst zerfressen wurde.
Am 2. Mai, einen Tag nach dem Tag der Arbeit, wurde Osama bin Laden in der Nacht von amerikanischen Einheiten erschossen und sein Leichnam aus einem Flugzeug in den Indischen Ozean geworfen. Die Nachricht war in allen Zeitungen: Der magere Mann mit dem langen Bart und dem einnehmenden Blick, der in seiner Auslandsvilla mit Schutzmauern wie eine Burgfeste – zumindest nach Aussage von Journalisten – in der Falle saß, war mitten zwischen seinen Frauen und seinen Medikamenten ausgelöscht worden wie ein Schädling. Der meistgesuchte Terrorist der Welt hielt sich fünfzig Kilometer entfernt von Islamabad auf, und das seit Jahren, hieß es in dem Artikel. Man fragte sich, warum man ihn heute umgelegt hatte und nicht gestern oder morgen; warum man ihn nicht festgenommen hatte, warum man seine Leiche den Fischen zum Fraß hingeworfen hatte. Es war eigentlich nicht von Bedeutung, man spürte, dass Bin Laden seinen Leib, seine körperliche Präsenz schon seit Langem verloren hatte – er war zu einer Stimme geworden, die sich von Zeit zu Zeit aus einer imaginären Grotte, die im hintersten Winkel der Jahrhunderte verborgen war, zu Wort meldete; sogar seine Existenz kam einem mehr und mehr zweifelhaft vor, und dass er untergetaucht war,
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