Straße der Diebe
Fehler ; und ich musste mich bei Judit entschuldigen: Dieser Choukri war außergewöhnlich. Sein Arabisch war kraftvoll wie die Stockschläge, die er von seinem Vater erhalten hatte, hart wie der Hunger. Es war eine neue Sprache, eine neue Art zu schreiben, die mir revolutionär erschien. Er fürchtete sich nicht, er erzählte, ohne zu verschleiern, weder den Sex noch die Gewalt oder das Elend. Seine Lebensstationen erinnerten mich bisweilen an die Monate, in denen ich herumvagabundiert war; die Betroffenheit war so groß, dass ich das Buch zuklappen musste, wie man von einem Spiegel zurückweicht, wenn einem sein Spiegelbild nicht gefällt. Judit war froh, dass ich die Tatsache anerkannte; sie erzählte mir die einzigartige Editionsgeschichte von Das nackte Brot : Erstveröffentlichung als Übersetzung, Verbot der arabischen Originalfassung in Marokko für mehr als zwanzig Jahre. Es war nicht schwer zu erraten, warum: Elend, Sex und Drogen dürften den Zensoren in der damaligen Zeit nicht gefallen haben. Heute ist es von Vorteil für Bücher, dass sie so bedeutungslos, so schwer verkäuflich sind und so wenig gelesen werden, da lohnt es sich nicht einmal mehr, sie zu verbieten. Und Choukri wurde vor etwa einem Jahrzehnt mit großem Pomp in Anwesenheit von Ministern und Repräsentanten des Palasts in Tanger begraben – als ob alle diese Würdenträger seinen Tod feierten, indem sie ihn zu Grabe trugen.
Judits Abreise nach unseren drei gemeinsam verbrachten Tagen und Nächten hatte mich in Trübsinn und Einsamkeit gestürzt; ich bekämpfte sie wie immer mit Arbeit, Lesen, bis meine Augen von Fieber brannten, und mit Liebesgedichten. Ich dachte an die fünfundvierzig Tage, die mich von meiner Reise trennten. Ich las seitenlang alle Nachrichten über die Revolution in Tunesien. Ibn Battuta hatte Tunis nur wenige Zeilen gewidmet, es gebe dort zahlreiche bedeutende Ulamas; er hielt sich am Ende des Ramadan in Tunis auf und nahm am Fest des Fastenbrechens teil. Ich dagegen würde dort direkt vor der Fastenzeit sein, mit einem Zeitunterschied von knapp einem Monat zu meinem berühmten Vorgänger.
Ausgerechnet zwei Tage vor meinem Flug ein erneuter Schicksalsschlag: Ich erhielt die erste Mail von Bassam. Ich gestehe, dass ich inzwischen weniger häufig an ihn und Cheikh Nouredine dachte, dass ich seit dem Brand im »Haus der Verbreitung des koranischen Gedankenguts« nicht mehr in das Stadtviertel zurückgekehrt war, dass ich ein wenig wie im Exil lebte, und als ich eines Morgens wie immer nach dem Aufstehen einen Blick in meine Mailbox warf, um zu sehen, ob ich schon Judits Antwort auf eine Mail vom Vorabend hatte, entdeckte ich eine seltsame Nachricht, die ich zuerst für eine jener Mails hielt, die einem eine einfache Penisverlängerung um fünf Zentimeter oder den günstigen Kauf von Viagra zu seiner Stärkung anbieten, und deren Absender den Namen »Cheryl Bang« oder so etwas Ähnliches trug. Der Betreff machte mich stutzig: Neuigkeiten , und ich öffnete sie – der Text war nur vier Zeilen lang:
Mein geliebter Bruder, wie geht es Dir? Ich bin weit weg, und es ist schwierig, aber, Inschallah, wir werden uns bald wiedersehen, auf dieser Erde oder im Paradies. Pass auf Dich auf, khouya, denk an mich, und alles wird gut gehen .
Die Nachricht war nicht unterzeichnet, und ich fragte mich einen Augenblick lang, ob es nicht Spam war, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Bassam in diesen Zeilen zu mir sprach, ich war sicher, dass er es war. Welche Absicht steckte hinter einer solchen Nachricht? Sollte sie mich beruhigen? Er war weit weg, es war schwierig, wo konnte er sich nur versteckt haben? In Afghanistan? In Mali? Nein, dort gab es sicher kein Internet. Wer weiß, vielleicht hatten die Kämpfer der AQMI , der Al-Qaida im Maghreb, Wi-Fi in ihren Zelten. Oder er schrieb mir aus einem Geheimgefängnis. Vielleicht waren diese wenigen Worte aber auch gar nicht von ihm, sondern von einer Maschine generiert, und ich täuschte mich ganz und gar.
Ich gestehe, dass ich gezögert habe, dieser Cheryl zu antworten; ich tat es nicht. Ich hatte Angst; schließlich schrieb er mir bestimmt nicht grundlos von dieser seltsamen Mailadresse aus und ohne seine Nachricht zu unterschreiben. Ich stellte mir vor, wie er in seinem Land der Finsternis mit dem Chidr sprach, der seine Nachrichten bis zu mir trug, in jenem Land der Finsternis, in dem er, ermutigt vom Gebet, zusammen mit anderen Kämpfern, mit seinesgleichen, mit dem
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