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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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vollendete seine Verwandlung in eine Figur, einen Dämon oder Heiligen: Die Figur, die mir, in der wirren Vorstellungswelt meines Kindseins, zugleich Schrecken und Bewunderung, Hoffnung und Entsetzen einflößte, die die Vereinigten Staaten von Amerika siegreich herausforderte, indem sie Zerstörung säte, wurde nun ein etwas hinderlicher Mythos, ein humpelndes Symbol, das zwischen Größe und Elend hinkte. Ich erinnerte mich an die Schulzeit, er war einer von Bassams Helden; wir spielten auf dem Schulhof, wir wären afghanische Kämpfer; heute war Bassam verschwunden, und Bin Laden hatte sein Schicksal in Gestalt von schwarz vermummten Navy Seals ereilt, Seehunden , wie ihr Name sagt, die ihn in die Tiefen des Abgrunds schleppten. An und für sich spielte das keine Rolle, außer dass es ein Abschied mehr von der gestrigen Welt war.
    Als Judit mir mitteilte, dass sie den ganzen Juli über an einem Arabischlehrgang am Institut Bourguiba in Tunis teilnehmen werde, und mir vorschlug, sie dort zu besuchen, sagte ich mir, das wird der Anfang zu meinen Reisen sein, wie Ibn Battuta in Tunesien haltmachte, als er von Tanger nach Osten aufbracht. Ich hatte außerdem große Lust, mit eigenen Augen zu sehen, wie das war, mitten in einer Revolution; ich fand, ich hätte das Alter der Revolte, und in Wirklichkeit fühlte ich mich einem jungen zwanzigjährigen Tunesier näher als sonst jemandem – ich stellte mir vor, dass Tunis ein wenig Tanger ähnelte, ich würde mich dort nicht fremd fühlen, die Tunesier waren Maghrebiner, Araber und Muslime, und zudem war es dieser Jugend, meinen Brüdern oder eher meinen Vettern, gelungen, sich von dem Diktator zu befreien – die Aussicht darauf, dies aus nächster Nähe zu sehen, machte mich glücklich. Ich ging also zu Monsieur Bourrelier, um Ferien mit ihm auszuhandeln – naiv, wie ich war, stellte ich mir vor, man habe ein Anrecht auf eine Art Urlaub, und in der Tat, so war es, aber es war nicht möglich, ihn zu nehmen, bevor man nicht ein Jahr gearbeitet hatte (außer wenn es mit dem Familienstand zu tun hatte, bei Heirat, Geburt, Todesfällen, die ich nicht vorweisen konnte). Jean-François war richtig genervt. Er sagte, er könne keine Ausnahme machen, denn das könnte zum Präzedenzfall werden, für eine Woche allerdings könnte man zu einer Vereinbarung kommen, sagte er; Sie kümmern sich weiter um Ihre Karteikarten und Seiten, und wir drücken bezüglich Ihrer Anwesenheitspflicht für fünf Tage ein Auge zu. Sollte einer Ihrer Kollegen nach Ihnen fragen, sagen wir, Sie seien krank und arbeiteten von zu Hause aus, fertig. Aber passen Sie auf, dass Ihnen da unten nichts zustößt, und verpassen Sie nicht den Rückflug, hm, sonst müssen wir Sie rauswerfen.
    Ich würde also mit den gefallenen Frontsoldaten und Casanova reisen müssen, merkwürdigen Begleitern, aber gut, Judit hatte den ganzen Tag Unterricht, ich würde im gleichen Rhythmus arbeiten wie sie, so sollte es doch gehen. Und eine Woche war besser als nichts. Zudem brauchte ich kein Visum für Tunis, maghrebinische Brüderschaft verpflichtet, ein Personalausweis genügte, und am frühen Abend des 15. Juli 2011, nachdem ich ein quasi endgültiges Loch in meine Ersparnisse gesprengt hatte, bestieg ich zum ersten Mal ein Flugzeug. Zu Fuß ging ich nach der Arbeit zum Ibn Battuta Airport, der direkt neben der Freihandelszone liegt; ich hatte mich gut angezogen, trug trotz der Hitze Jackett und Hemd; das Haar gekämmt, die Schuhe poliert, ein wenig aufgekratzt, muss ich in der Flughafenwelt schon von Weitem wie ein Neuling gerochen haben. Ich versuchte routiniert auszusehen, als wäre der Flughafen ein Nachtclub oder eine Bar mit Gesichtskontrolle, bei den Formalitäten wie der obligatorischen Entkleidung zog ich eine gelangweilte, geringschätzige Miene, aber ich hatte Angst, irgendetwas könnte schiefgehen, dass der Zollbeamte bei der Eingabe meines Namens in seinen Computer erfahren könnte, dass die Polizei mich suchte, dass sein Bildschirm zu blinken begänne, dass eine Sirene losginge und ein Trupp dicker Polizisten mit grauen Helmen mich plattmachte, aber nein, nichts davon geschah, ich erhielt meinen Ausweis zurück, nahezu ohne Gesichtskontrolle, und nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich vor den Fensterfronten zum Rollfeld wartete, stieg ich in das Flugzeug, nicht halb tot vor Angst, nur keine Übertreibungen, aber alles andere als beruhigt; durch das kleine Fenster sah ich einen Typen mit einem Helm über den

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