Straße der Diebe
Aufteilung war perfekt; ich gebe zu, dass es mir viel Vergnügen bereitete, jeden Morgen meine gefallenen Frontsoldaten zur Hand zu nehmen, während ich zusah, wie der Schatten im Hof immer kleiner wurde und die Sommersonne schließlich auf den blauen Fliesen explodierte; abends, wenn Judit zurückkam, gossen wir Wasser über die Fliesen und streckten uns drauf aus, nackt in der scheinbaren Frische der Feuchtigkeit, bis die Nacht anbrach.
Am Samstag zeigte mir Judit die Innenstadt von Tunis und die Altstadt; die Hitze war weniger drückend, als man erwartet hätte: Vom Meer her wehte eine leichte Brise, ein wenig wie in Tanger. Die Spiegelung war dennoch so gewaltig, dass die Lagune aussah wie eine riesige Salzfläche, so weiß und so strahlend. Der tunesische Dialekt klang witzig, hatte mehr Singsang als der marokkanische oder der algerische, schon mit einem orientalischen Einschlag, wie mir schien. Die Medina war ein weitläufiges Labyrinth, das die Touristen verschluckte, und man musste sich in den kleinen Gässchen verlaufen, damit einem nicht alle zwei Minuten ein ein Tee, mein Freund, wie wär’s mit einem Tee, mein Freund? Suchst du einen Teppich, ein Souvenir? zugerufen wurde. Ich war ziemlich stolz, denn in Judits Begleitung sprach man mich meistens auf Französisch an.
Am Abend zuvor, dem Tag meiner Ankunft, hatte es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten vor dem Regierungspalast auf der Place de la Casbah gegeben; das gesamte Viertel war abgeriegelt gewesen, und das Sit-in der jungen Leute, die unter anderem den Rücktritt des Innenministers forderten, war mit Knüppeln und Tränengas aufgelöst worden. Auf Internetseiten wurde dazu aufgerufen, die Revolution, von der man spürte, dass sie, je nach Sichtweise, zu versickern oder zu enden drohte, wieder mit Leben zu erfüllen, wenn die Wahlen im Oktober die Regierungsgewalt wie erwartet in die Hände der Islamisten von Ennahda legen würden. Die jungen Leute ahnten, dass man sie um die Früchte der Revolte bringen würde und dass der Aufstand eine Regierung der konservativsten, um nicht zu sagen reaktionärsten Kräfte hervorbringen würde – zwar demokratisch gewählt, aber es würde unter ihr nicht viel lustiger zugehen als unter Ben Ali. Als wir zur Place de la Casbah kamen, die noch immer von Polizeiwannen und Uniformierten mit Helmen abgesperrt war, bildete ich mir ein, den stechenden Geruch von Tränengas zu riechen – die beißenden Tränen der Revolutionäre. Die Proteste am Vorabend hatten sich über weite Teile des Landes und bis nach Sidi Bouzid ausgeweitet, einer Hochburg des Protests, die Polizei hatte sogar mit scharfer Munition geschossen – angeblich um die Menschenmenge zu erschrecken, ein vierzehnjähriger Junge war jedoch von einem Querschläger getötet worden. Im Internet hieß es, dass viele Militante der Meinung waren, die Demonstration vom Freitag sei von den Islamisten organisiert gewesen.
In der Sommerhitze beklagten sich die Tunesier mehr über das (relative) Ausbleiben von Touristen als über die provisorische Regierung. Sie klammerten sich alle an das Datum des 23. Oktober, der dem Tränengas und den Knüppelschlägen ein demokratisches Ende bereiten würde.
Ich spürte in diesem Übergang, in der nachrevolutionären Zeit, eine gewisse Niedergeschlagenheit, vielleicht weil ich Ausländer war, und Tunis schien wie gelähmt, versteinert im Rauch der Tränengasgranaten und dem weißen Sommerlicht.
Ich war kein Ibn Battuta. Ich würde weder bedeutende Ulema treffen noch Predigten in den Moscheen hören, selbst wenn mir das nicht missfallen hätte, aber ich hätte allein dorthin gehen müssen: In Tunesien ebenso wie in Marokko ist Ungläubigen der Besuch von Moscheen verboten. Da Judit diese Vorschrift ziemlich diskriminierend fand – sie versicherte mir, dass dies in Kairo oder in Damaskus nicht der Fall war –, habe ich versucht, den Grund dafür herauszufinden, und es waren die Franzosen, genauer gesagt der erste französische Generalresident von Marokko, Lyautey, die dieses Gesetz erließen, das danach über den ganzen Maghreb unter französischer Herrschaft ausgedehnt wurde, um den Respekt zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften sicherzustellen. Keine Ahnung, ob es gut oder schlecht ist, aber es kommt mir merkwürdig vor, dass Touristengruppen ungehindert die Umayyaden-Moschee oder die Al-Azhar-Moschee betreten können, aber nicht die Moschee von Kairouan oder die
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