Straße der Diebe
den runden Kopf und die kindlichen Züge von Bassam, er hätte es sein können. Vielleicht war er unversehens verrückt geworden. Zuerst läuft er kurz nach dem Attentat in Marrakesch Judit über den Weg, dann erscheint im Journal de Tanger ein Phantombild, das ihm ähnelt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er junge Studenten erstach, die friedlich an ihrem Tisch in der Sonne saßen; unmöglich, dass er sich so schnell verändert hatte, und dennoch, unweigerlich fiel mir dazu ein, wie bedenkenlos er auf den Buchhändler eingeprügelt hatte. Die Frage Warum? schien mir für immer unbeantwortet zu bleiben; selbst wenn Bassam tatsächlich mitgeholfen hätte, die Bombe im Café Argana zu legen, und einem jungen Marokkaner in unserem Alter einen großen Dolch in den Rücken gestoßen hätte, selbst wenn ich ihn vor mir gehabt hätte, wenn ich gefragt hätte, warum? wozu?, er hätte nur mit den Schultern gezuckt; er hätte geantwortet: für Gott, aus Hass auf die Christen, für den Islam, für Cheikh Nouredine, was weiß ich, aber er hätte gelogen, ich wusste, er würde lügen, denn er konnte den Grund für seine Tat nicht kennen, weil es nämlich keinen Grund gab, ebenso wenig, wie es einen Grund dafür gegeben hatte, den Buchhändler zu verprügeln, so war das, es lag in der Luft, Gewalt lag in der Luft, es gab diese Tendenz; und diese Tendenz konnte man nahezu überall spüren, und sie hatte Bassam in diese Dummheit mit hineingerissen. Ich dachte an das, was ich unbeabsichtigt ausgelöst hatte, das Unglück und den Tod; Bassam hatte einen Knüppel in der Hand und vielleicht einen Säbel, aber die ideologischen Gründe, die ich aus der Höhe meiner zwanzig Jahre erkennen konnte, überzeugten mich nicht: Ich kannte Bassam, ich wusste, dass sein Hass auf die westliche Welt oder seine Leidenschaft für den Islam sehr relativ waren, dass es ihn wenige Monate vor seiner Begegnung mit Cheikh Nouredine noch mehr als alles andere angeödet hatte, mit seinem Vater in die Moschee zu gehen, dass er es nicht fertiggebracht hatte, auch nur ein einziges Mal zum Fadschr -Gebet vor Sonnenaufgang aufzustehen, und dass er davon träumte, in Spanien oder Frankreich zu leben. Doch bei genauerer Betrachtung wurde mir auch klar, dass ihn auf der anderen Seite die Tatsache, auf ein Mädchen scharf zu sein oder von Deutschland oder den Vereinigten Staaten zu träumen, von überhaupt nichts abhalten würde. Ich wusste, dass Cheikh Nouredine in Frankreich aufgewachsen war, und als ich mit ihm darüber sprach, hatte er dem Land bestimmte Dinge zugutegehalten und zugegeben, dass es, abgesehen von einem Leben unter lauter kuffar , also Ungläubigen, besser wäre, in Frankreich zu leben als in Spanien oder Italien, wo, wie er sagte, der Islam verachtet, vernichtet, zu Elend verurteilt sei.
All die Monate, die ich bei der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts« verbracht hatte, hatten mir Nouredine nähergebracht; er war gut zu mir, und ich wusste (oder glaubte gerne), dass er mich ohne Hintergedanken aufgenommen hatte; sicher, er erteilte mir Morallektionen, aber nicht mehr als ein Vater oder ein großer Bruder. Oft wiederholte er im Spaß, dass meine Kriminalromane mir das Denken verdarben, dass es teuflische Bücher seien, die mich ins Verderben stürzen würden, doch er tat niemals etwas, um mich daran zu hindern, sie zu lesen, zum Beispiel, und hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie er in jener Nacht das Kommando des Schlägertrupps anführte, wäre es nicht eine Sekunde lang denkbar für mich gewesen, dass er, entfernt oder direkt, mit einer Gewalttat zu tun haben könnte.
Angeblich hatten die drei brutalen Attentäter von Marrakesch ihre Tat im Alleingang durchgezogen, das sagte jedenfalls die Polizei; über Internet sollen sie gelernt haben, wie man eine Bombe baut und zündet. Doch Bassams von Judit bestätigte Anwesenheit dort ließ mich auf paranoide Weise Netzwerke, Verbindungen, Verschwörungen vermuten; ich zog sogar einen Augenblick lang in Betracht, dass Cheikh Nouredine in Wirklichkeit im Dienst des Palasts stand, ein Aufwiegler, ein Doppelagent war, dessen Auftrag darin bestanden habe, die Reformen und den Fortschritt in Richtung Demokratie zum Scheitern zu bringen, was sowohl den Brand in den Räumlichkeiten der Gruppe erklärte, mit dem man Spuren vernichtet hatte, als auch die Tatsache, dass man sich nie um mich gekümmert hatte.
Der Anschlag im Café Hafa erschien mir besonders feige und
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