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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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aber es brachte mich auf andere Gedanken.
    Judit hatte kein Geld, um mich zu besuchen; ich hatte kein Visum, um in Algeciras in den Bus zu steigen und zu ihr zu fahren. Ich konnte Spanien lediglich von hinter den Zollgittern betrachten, wie Hunderte von meinem Schlag, die auf den Stacheldraht um Ceuta oder Melilla starrten; der einzige Unterschied bestand darin, dass ich auf dem europäischen Kontinent war. Lange dachte ich daran, mich in einem Lastwagen zu verstecken oder mich unauffällig in der Autoschlange durchzuschmuggeln, und es hätte mir bestimmt gelingen können, aber was hätte mir das genützt? Meine Tatkraft nahm langsam ab. Die Kraft, die mir Judits Gegenwart in Tunis, ihr Körper gegeben hatten, verblasste nach und nach. Ich beließ es dabei, die Tage verstreichen zu lassen, übers Meer zu fahren, ohne große Hoffnung, bereit, eine Ewigkeit zwischen den beiden Ufern des Mittelmeeres zu verbringen.

Es passierte im Januar. Ein Schicksalsschlag, wieder einer; wir hatten seit September noch keinen Centime von unserem Gehalt gesehen, und ich war schon so weit, alles aufzustecken, ich dachte ernsthaft daran, mich wieder in den Dienst der gefallenen Frontsoldaten zu stellen, Judit schrieb mir kaum noch, antwortete sehr lakonisch auf meine Mails, sodass ich mich zu fragen begann, ob sie nicht einen anderen kennengelernt hatte, da rief uns eines Abends der Chef zusammen, nachdem wir wie üblich am Morgen in Algeciras angelegt und dann den ganzen Tag auf den Befehl zum Ablegen gewartet hatten, ohne zu verstehen, warum wir nicht ausliefen. Wir waren zweiunddreißig Mann in der Cafeteria. Er machte ein komisches Gesicht, überrascht vielleicht oder niedergeschlagen oder beides zugleich. Er kam ohne Umschweife zur Sache. Er sagte, Jungs, die Schiffe sind von der spanischen Justiz beschlagnahmt worden. Wir können nicht auslaufen, bis wir neue Anweisung bekommen. Die Schifffahrtsgesellschaft schuldet dem Hafen Millionen Euro für Treibstoff und Liegegebühren. So sieht es aus. Er blickte in die Runde. Alle redeten wild durcheinander. Er beantwortete die drängendsten Fragen. Ja, ihr könnt auf einem Fährschiff der Konkurrenz nach Tanger zurückkehren, sie nehmen euch sicher mit. Man würde das allerdings als Verlassen des Postens werten, als Vertragsbruch, und im Falle eines Verkaufs der Schiffe wären damit alle Ansprüche auf den noch nicht ausbezahlten Lohn verloren. So viel meinte ich jedenfalls zu verstehen.
    Es kam uns vollkommen absurd vor. Wir hingen im Hafen von Algeciras fest. Na gut, ich gehe heim, dachte ich. Mache bei Monsieur Bourrelier und dem Ersten Weltkrieg weiter, von dem ich nie hätte weggehen sollen.
    Der Kapitän beantwortete weiter unsere Fragen.
    »Zum Glück sind die Tanks voll, wir haben eine Zeit lang genug Treibstoff für Strom und Heizung. Wir werden uns irgendwie behelfen müssen, um nicht zu verhungern. Schlimmstenfalls lassen wir uns von Kollegen aus Tanger versorgen.«
    »Ich bin gezwungen zu bleiben, ja. Aber ihr … ihr könnt machen, was ihr wollt.«
    »Zwei Wochen vielleicht, vielleicht weniger. Zur Aussetzung der Pfändung würde es reichen, wenn die Gesellschaft einen Teil der Schulden begleicht.«
    »An Platz mangelt es nicht. Wir haben alle Kabinen … Es müssten sogar noch unbenutzte Bezüge und Decken übrig sein.«
    »Keine Ahnung, wir können Silbenrätsel spielen. Wenn wir bei der Marine wären, würden wir die Zeit nutzen und den Schiffsrumpf streichen.«
    Er hielt sich den Bauch vor Lachen. Es gab übrigens mehrere Typen, die lachten. Aber auch welche, die das alles nicht komisch fanden. Die zum Beispiel Frau und Kinder in Tanger hatten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, zehn Seemeilen von zu Hause festzusitzen: weniger als eine Stunde mit dem Fahrrad auf flacher Strecke.
    Am nächsten Tag stand die Nachricht in der Lokalzeitung, die uns die spanischen Dockarbeiter brachten:

    Un nuevo drama laboral en el sector marítimo recala en el puerto de Algeciras. Un total de 104 marineros, los que componen la tripulación de los buques Ibn Battuta, Banasa, Al-Mansur y Boughaz, afrontan una situación muy precaria, abandonados a su suerte por la naviera marroquí Comarit, que se encuentra en graves problemas económicos que están motivando un drama social que salpica también a otros puertos del Mediterráneo.
    Die Ibn Battuta war auf einem Foto abgebildet; auf der Brücke waren einige Seeleute zu sehen, darunter ich. Es war das erste Mal, dass ich in einer Zeitung

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