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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Backbord, Steuerbord. In den vier Monaten habe ich mehr Arschtritte, echte und verbale, bekommen als in meinem ganzen Leben. Aber ich lernte es schließlich, ein bisschen wenigstens; ich konnte Autos einweisen, dass sie standen wie Sardinen in der Dose; ich wusste, wo was war in diesem riesigen Kahn, vom Maschinenraum bis zur Gangway, und vor allem schaffte ich es nach und nach, dass die Seeleute, wenn sie mich schon nicht schätzten, mich doch zumindest akzeptierten.
    Es gab sehr wenig junge Leute auf der Ibn Battuta . Die Mehrzahl der Mannschaft hatte die vierzig überschritten. Man muss sagen, wir waren nicht viele für ein Schiff dieser Größe; der Verzicht auf Kabinenservice sowie Bewirtung (wenngleich ich in der Cafeteria Sandwiches und Chips verkaufte, das schon) ermöglichte ein sehr reduziertes Personal: Die Überfahrt war viel zu kurz, um sich mit Einzelheiten herumzuschlagen.
    Ich war nicht Sindbad, das steht fest. Trotz der ruhigen See erzeugten die Bewegungen des Schiffs bei mir ein seltsames Gefühl, als ob ich zu viele Joints geraucht hätte – nicht wirklich krank, aber auch nicht ganz auf der Höhe. Mein Körper, besonders meine Beine, schien nicht mehr denselben Gesetzen zu gehorchen wie auf dem Festland, ein leichtes Wiegen erfasste ihn, oder vielmehr ein Hin und Her, ein neuer Rhythmus, der bewirkte, dass selbst die harmlosesten Bewegungen – eine Treppe hinaufgehen, ein Deck überqueren – eine andere Sinnesschärfe erforderten als normalerweise: Plötzlich war Fortbewegung kein so natürliches Phänomen mehr, dass man sie gedankenlos absolvieren konnte, im Gegenteil, alles erinnerte einen daran, dass man außerordentlich achtsam sein musste, sonst ging man im Zickzack, rutschte weg oder landete, wie im November während der zwei oder drei Stürme, die ich erleben konnte, geradewegs auf dem Hosenboden, denn ein Schluckauf der Fähre schickte einen mir nichts, dir nichts zu Boden.
    Aber es war trotzdem herrlich, an Bord zu sein: Die Landschaft war berauschend. Am Morgen, wenn die Sonne noch tief stand, rückten die Hügel von Marokko immer weiter in die Ferne, leuchteten, bis sie zu grünen und weißen Flecken wurden, Vorgebirge für Riesen, für Herkules, und am Kap Spartel schien das Licht mit seinen Säulen zu spielen; dann kam die andalusische Küste näher, und es fielen einem der Feldzug von Tariq ibn Ziyad ein, dem Eroberer Spaniens, und die Berber, die die Westgoten besiegt hatten: Ich kommandierte meine eigene Armee aus Lastwagen, alten Renaults, Mercedes-Wagen; zusammen würden wir Granada zurückerobern, und die Guardia Civil im Hafen von Algeciras würde uns bestimmt nicht daran hindern. Zuerst müsste das ganze Land mit ein paar Tonnen gutem Shit aus dem Rif betäubt werden, der kostenlos über den großen Städten abgeworfen würde: unsere Luftoffensive; Gnawa-Regimenter würden die Mauern der letzten feindlichen Städte mit ihren Instrumenten erzittern lassen, und schließlich würden meine Lastwagen und Emigranten-Kutschen in einer glorreichen Prozession aus dem Bauch der Ibn Battuta rollen und sich auf den Weg zur Alhambra machen: Spanien würde wieder marokkanisch, was es eigentlich immer hätte bleiben sollen.
    Die Polizisten im Hafen von Algeciras dürften es ähnlich gesehen haben, denn sie fürchteten uns wie die Pest; sie verdächtigten uns, wir würden sie übers Ohr hauen, schmuggeln, Leute reinschleusen. Ich spreche zwar von uns, aber eigentlich sollte ich nur von den alten Seeleuten auf dem Schiff sprechen: Mir gegenüber waren sie lediglich misstrauisch. Wenn wir am Kai ankamen, begannen wir mit dem Ausschiffen; dann hatte ich europäischen Boden unter den Füßen, und dieses Gefühl war seltsam, zumindest anfangs – bevor die Gitter und die Zollbaracken in meinem Rücken mir klarmachten, dass ich in Wirklichkeit nirgendwo war.
    Ende Oktober, als die Tunesier gerade auf demokratischem Weg die Islamisten von der Ennahda-Partei an die Regierung brachten und die Spanier sich anschickten, die Katholiken vom Partido Popular zu wählen, wie auch die Marokkaner etwa zum selben Zeitpunkt den Weg zu den Urnen antraten, wurde ich dieser fruchtlosen Hin- und Rückfahrten auf der Meerenge überdrüssig. Mein Lohn blieb aus, man bezahlte mich nicht, meine Ersparnisse schrumpften immer mehr; die Arbeit war ziemlich ermüdend und langweilig. Sicher, ich hatte in der Mannschaft einen Freund gewonnen, Saadi, einen alten Seemann von sechzig Jahren, der auf allen Meeren der Welt

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