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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Hochseeschiffe, die normalerweise überhaupt keinen Hafen sehen: Wenn wir ihnen in den Fahrrinnen begegneten, sahen wir mit unseren Containern neben diesen Kolossen aus wie Fischerboote oder Ausflugsschiffe. Und erst die Städte, ah, mein Sohn, leider blieben wir nie sehr lange, aber nirgendwo siehst du so viele Türme, Gebäude aller Art, in allen Farben wie zum Beispiel in Rotterdam. Nirgendwo so viele Immigranten aus allen nur denkbaren Nationen. Es ist ganz einfach, ich könnte schwören, dass ich nie mehr als einem oder zwei Holländern begegnet bin. Es gab zum Beispiel Bordelle, die ausschließlich mit Thailänderinnen besetzt waren. Kürzlich habe ich sogar erfahren, dass der Bürgermeister von Rotterdam Marokkaner ist. Damit du siehst, wie sehr da oben Ausländer respektiert werden. Ein bisschen wie im Persischen Golf, sagte ich. Darüber musste er lachen. Klugscheißer. Ich merke, du hörst mir zu: Rotterdam und Doha sind nicht zu vergleichen, du Dummkopf! Und Hamburg erst! In Hamburg kann man sich die Nutten in Supermärkten aussuchen, und es gibt Seen mitten in der Stadt. Im Stadtzentrum von Antwerpen hast du das Gefühl, im Mittelalter zu sein. Aber nicht in einem dreckigen Mittelalter wie in der Medina von Marrakesch oder Tanger, nein, in einem eleganten, gepflegten Mittelalter mit herrlichen Plätzen und atemberaubenden Häusern.
    »Dann wird es wohl eher die Renaissance sein«, sagte ich, um große Töne zu spucken, um zu zeigen, dass ich mich auch auskannte.
    »Was hat das damit zu tun? Ich sage dir, einen Hafen wie Antwerpen, Rotterdam und Hamburg hast du noch nie gesehen. Rotterdam wurde im Krieg vollständig zerstört, und sieh es dir heute an. Bei uns brauchen sie zwei Jahre, um ein Schlagloch zu füllen, stell dir mal vor, wie viele Jahrhunderte es brauchen würde, um Tanger neu aufzubauen, wenn es, Gott bewahre uns davor, je bombardiert werden sollte.«
    Saadi war dreißig Jahre zur See gefahren, auf fast einem Dutzend verschiedener Schiffe, und seit vier Jahre pendelte er auf der Meerenge an Bord der Ibn Battuta . Er war geschieden und hatte wieder eine blutjunge Frau geheiratet, die ihm gerade einen Sohn geboren hatte, auf den er sehr stolz war.
    »Bist du deshalb nicht irgendwo in Europa geblieben? Wegen deiner Familie?«
    »Nein, mein Sohn, nein. Wenn du monatelang auf einem stählernen Schiff zubringst, dann willst du nur noch zurück in deinen Sessel, in dein Heim. In Europa ist es gut und schön, einen Zwischenstopp einzulegen, das ist angenehm. Aber Tanger ist etwas anderes, Tanger ist meine Stadt.«
    Meine Erfahrung zur See hatte gerade, wenig ruhmreich, mit dem Stranden im Hafen von Algeciras geendet – ich fragte Saadi, ob er schon einmal etwas Ähnliches erlebt hatte, Schiffe, die im Hafen festsaßen. Er erzählte mir, dass einmal in Barcelona ein ukrainischer Frachter von der Reederei aufgegeben worden war, weil sie das notwendige Kielholen und die Reparaturen nicht bezahlen konnte: Die ganze Mannschaft hatte das Schiff verlassen, bis auf einen Matrosen, der den Erlös aus dem Verkauf des Schiffs in Empfang nehmen und das Geld seinen Kameraden mitbringen sollte. Der Ukrainer blieb mehr als zwei Jahre allein auf dem alten Kahn, sagte Saadi, lebte von der Wohlfahrt und ein paar Scheinchen, die ihm die ehemalige Mannschaft aus Odessa schickte. Jeder im Hafen kannte ihn; er war ein richtiger Held. Zu jener Zeit fuhren wir im Liniendienst Piräus–Beirut–Larnaca–Alexandria–Tunis–Genua–Barcelona, man nannte das den Omnibus. Ich sah den Ukrainer alle zwei Wochen. Ein prächtiges Mannsbild, mit einem unglaublichen Willen. Um eine Versteigerung zu vermeiden, bei der fast nichts für ihn herausgesprungen wäre, nervte er täglich die Büros der Reedereien und der Hafenbehörde mit seiner Suche nach einem Käufer für seinen Schrotthaufen – und glaub mir, Lakhdar, ein alter Frachter, selbst wenn er mehr oder weniger repariert ist, verkauft sich nicht wie ein Peugeot 205. Ich half ihm ein wenig, damit er seine Dieselmotoren anwerfen konnte; ich erinnere mich, es waren herrliche sowjetische Modelle, regelrechte Uhrwerke, selbst mit ihren zigtausend Betriebsstunden hätten sie eine Weltreise machen können. Sicher, die Barkasse war in schlechtem Zustand, man hätte die Achse der Schiffsschraube austauschen und einen Teil der elektrischen Steuerung erneuern müssen, aber eines Tages würde irgendjemand den Frachter kaufen, es war nur eine Frage der Zeit. Also wartete der Ukrainer. Er

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