Straße der Diebe
gefahren und jetzt auf der Meerenge in den Vorruhestand gegangen war. Er erzählte mir unglaubliche Geschichten, Berichte, die Abenteuerromanen würdig waren, und ich gab vor, sie zu glauben; jedenfalls verging so die Zeit.
Ich hatte nicht mehr allzu viel Gelegenheit, meine Dichterkarriere zu verfolgen: Wenn ich nach Hause kam, war ich zu kaputt, um mich zum Schreiben aufzuraffen, und sogar das Lesen wurde zu einem Sonntagsvergnügen, wenn ich nicht arbeitete. Meine Wohnung lag vom Mittelmeerhafen Tangers weit entfernt, ich brauchte eine gute Dreiviertelstunde mit dem Bus für meinen Weg zur Arbeit oder zurück. Kurz, ich fragte mich, ob ich nicht eine Riesendummheit begangen hatte, als ich Monsieur Bourrelier und die Gefallenen aufgab. Sogar meine Korrespondenz mit Judit litt. Ich dachte an sie, sehr oft sogar; in der ersten Zeit nutzte ich den Aufenthalt in Algeciras, um ihr handschriftliche Briefe nach Barcelona zu schicken – ich schreibe Dir aus Andalusien –, doch wir merkten sehr schnell, dass diese Sendungen und Postkarten mindestens ebenso lange bis zu ihr brauchten, als hätte ich sie in Tanger abgeschickt. Judit engagierte sich immer mehr im Protest gegen das System, wie sie es nannte; sie hatte sich einer Gruppe angeschlossen, die über Aktionen für die Bewegung der Indignados nachdachte, sie bereiteten verschiedene größere Aktionen für die Zeit nach den Wahlen vor. Was sie über die Situation in Katalonien schrieb, war ziemlich erschreckend; die nationalistische Rechte an der Macht zerstörte systematisch den ganzen öffentlichen Dienst, allen voran die Universität: Man strich Fächer, kürzte den Lehrenden von Trimester zu Trimester das Gehalt. Sie machte sich Sorgen: Die Qualität der Lehre sei jetzt schon nicht besonders, da frage man sich, was daraus wird, wenn es so weitergeht. Ein Jahr vor ihrem Diplom stand sie am Scheideweg, musste eine Richtung wählen, einen Masterabschluss bestimmt oder einen längeren Aufenthalt in der arabischen Welt; sie schwankte, ob sie Übersetzerin werden sollte, kurz und gut, sie war ein wenig ratlos und folglich immer empörter.
Ich hatte ein oder zwei Mails von Bassam erhalten, jede von einer anderen Mailadresse versandt, die nach wie vor rätselhaft waren. Er fragte nicht, wie es mir ging; er schrieb nicht, wie es ihm ging; er beklagte nur die Schwierigkeit zu leben und zitierte Verse aus dem Koran. Einmal die Sure Die Hilfe : Wenn die Hilfe Gottes kommt und der Erfolg etc.; dann die Sure Die Beute : Als der Herr den Engeln eingab: ich bin mit euch. Festigt diejenigen, die gläubig sind! Ich werde denjenigen, die ungläubig sind, Schrecken einjagen. Haut auf den Nacken und schlagt zu auf jeden Finger von ihnen! «
Noch hatte niemand die Verantwortung für den Anschlag im Café Hafa übernommen, und in den Zeitungen war es kein Thema mehr. Die ganze Aufmerksamkeit der Presse galt den Wahlen, den Wahlen in Tunesien, in Marokko, in Spanien, man hatte den Eindruck, eine Welle der Demokratie überrollte unseren Zipfel der Erde.
Ich hing in der Luft, lebte auf der Meerenge; ich war nicht mehr hier und noch nicht da, ewig auf der Abreise, im Barzach , zwischen Leben und Tod.
Ständig kehrten meine Albträume wieder und vergifteten mir das Leben; entweder träumte ich von Meryem und Strömen von Blut oder von Bassam und Cheikh Nouredine; ich träumte von Attentaten, Explosionen, Schlachten, Gemetzeln. Ich erinnere mich an eine besonders schreckliche Nacht, in der ich träumte, Bassam würde Judit an den Haaren festhalten und dann mit leerem Blick, ein Stirnband um den Kopf, abstechen wie ein Schaf. Diese entsetzliche Szene verfolgte mich mehrere Tage lang.
Wenn ich Zeit hatte, versuchte ich regelmäßig zu beten, um meinem Geist Ruhe zu verschaffen; im rituellen Niederwerfen und in der Rezitation fand ich ein wenig Ruhe. Gott war gnädig, er tröstete mich.
Ich musste einen Weg finden, mir wieder einen Vorrat an Krimis zuzulegen, der einzige, der mir geblieben war, war das Abschiedsgeschenk von Jean-François: Er hatte mir Jean-Patrick Manchettes Volles Leichenhaus geschenkt, weil er ihn doppelt besaß. Es war ein gutes Buch, ein sehr gutes sogar, geschrieben in der ersten Person, die Geschichte eines Expolizisten namens Eugène Tarpon, der Privatdetektiv geworden war, dem es aber an Aufträgen mangelte, ein Ricard-Trinker, dessen einzige Perspektive darin bestand, zu seiner Mutter in den hintersten Winkel Frankreichs zurückzukehren. Zum Verzweifeln komisch,
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