Straße der Diebe
morgen in Barcelona. Wenn Du willst . Ich stellte ihr zu ihrem Schweigen nicht all die Fragen, die in mir nagten, aber die etwas verzweifelte Formulierung der Nachricht, dachte ich, würde es für mich tun. Dann drehte ich eine Runde in Algeciras; ich schaute mir die Geschäfte an und wie die Leute dort aussahen. Ich gönnte mir ein zweites Bier in einer Bar, die ich ziemlich schick fand. Das Café war voller Frauen, aller Arten von Frauen. Gruppen von jungen Mädchen, die sich laut miteinander unterhielten; andere waren älter und sahen aus, als kämen sie direkt von der Arbeit hierher, um einen Schluck zu trinken. Es gab sogar eine Kellnerin, sie dürfte in meinem Alter gewesen sein; sie brachte mir mein Pils. Ich versuchte, unauffällig zu bleiben, so zu tun, als wäre das alles nicht Neuland für mich – die Sprache, die Gesichter. Ich hatte das Gefühl, in den Fernsehapparat geschlüpft zu sein, und plötzlich bildete ich mir ein, dass mich alle ansahen, wie ich in meinem kakifarbenen Parka mit den speckigen Ellbogen dasaß, und dass sie alle errieten, dass er von der Caritas stammte.
Zwei Stunden später kehrte ich zurück, um nachzusehen, ob Judit etwas von sich hatte hören lassen, doch es war keine Antwort da. Ich beschloss, ihr etwas mehr Zeit zu geben, ich irrte durch die Stadt auf der Suche nach einem billigen Hotel – und ich fand eines. Es war schäbig, um nicht zu sagen ekelhaft; Haare auf dem Kopfkissen, Schamhaare in der Dusche, es stank von unten nach der Fritteuse des Restaurants, und ich musste im Voraus bezahlen, aber die Preise waren fast marokkanisch.
Die Freiheit hatte einen traurigen Beigeschmack. Ich dachte an Saadi und die Kumpels vom Schiff, an Jean-François Bourrelier, an Cheikh Nouredine, an Bassam, an alle, die mir geholfen hatten, bevor sie verschwanden. Natürlich auch an Judit.
Ich hatte wieder eine Riesendummheit begangen, ich war allein, mit zweihundert Euro, die mir Saadi geliehen hatte, ich hatte nichts als einen Koran, einen Krimi und einen vergammelten Parka, ich musste alles neu aufbauen, mit einem Visum aus Barmherzigkeit, das mir das Hafenamt als einem bevorzugt zu Behandelnden ausgestellt hatte. Mein Leben, schien mir, stand auf der Kippe; ich sah mich schon wieder auf den Märkten betteln wie zwei Jahre zuvor, auf den Ausgangspunkt zurückversetzt.
Ich verbrachte den Abend in der Bar El Estrecho , die ihren Namen verdient hatte, sie war schmal wie die Meerenge selbst; der Fernseher lief, Real Madrid spielte unentschieden in Moskau, das war meine Abendbeschäftigung.
Auf dem Rückweg ins Hotel warf ich noch einmal einen Blick auf meine Mails und in Facebook, es war noch immer keine Nachricht von Judit gekommen. Ich beschloss, sie auf ihrem Handy anzurufen, es war halb zwölf Uhr nachts; in dem locutorio gab es eine Reihe Telefonzellen. Ich wählte ihre Nummer, sie nahm fast sofort ab.
» Hola , ich bin’s, Lakhdar«, sagte ich. »Ich bin in Algeciras.«
Ich versuchte, meine Stimme zu kontrollieren, fröhlich zu klingen, damit sie meine Angst nicht erriet.
»Lakhdar, ¿qué tal? Kayfa-l hal? «
»Es geht mir gut«, sagte ich. »Ich habe ein Visum, hast du meine Mail gesehen?«
Ich spürte, dass sie verlegen war, irgendetwas stimmte nicht.
»Nein … Oder eigentlich doch, ich habe deine Mail gesehen …« Sie zögerte einen Moment. »Aber ich hatte keine Zeit, dir zu antworten.«
Ich wusste sofort, dass es gelogen war.
Das Gespräch stockte, sie überwand sich und erkundigte sich nach mir, plötzlich wusste ich nicht mehr so recht, was ich sagen sollte.
»Willst du … Willst du, dass ich nach Barcelona komme?«
Ich kannte die Antwort, aber ich wartete wie ein Deserteur vor dem Pfosten auf seine Hinrichtung.
»Äh ja, natürlich …«
Wir waren dabei, einander zu beschämen; sie beschämte mich, indem sie log, und ich beschämte sie, indem ich sie zu lügen zwang.
Ich versuchte zu lächeln, während ich sprach; ich sagte, das macht nichts, mach dir keine Sorgen, ich ruf’ dich in ein paar Tagen wieder an, in der Zwischenzeit können wir uns schreiben; und dann brauchte es wie üblich lange Minuten, bis wir uns entschließen konnten, das Gespräch zu beenden, ich spürte ihre Erleichterung, als sie »dann bis ganz bald« hauchte, bevor sie auflegte.
Ich verließ die winzige Telefonzelle nicht sofort; ich schaute lange den Hörer an, mein Kopf war leer. Dann meinte ich, dass sich die Marokkaner draußen über mich lustig machten, dass sie mich unter
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