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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Hafen hundert Seeleute und vier Fähren liegen zu haben ist auf die Dauer eine ganz schöne Belastung.«
    »Fehlt dir deine Frau nicht? Hast du keine Lust, nach Hause zu gehen?«
    »Weißt du, ich habe neun Zehntel meines Lebens fern von zu Hause verbracht. Da ist es jetzt nicht viel anders. Ich bin es gewohnt.«
    »Ich komme mir vor wie im Knast. Ich kann nicht mehr. Ich drehe hier noch durch, wenn ich ewig zwischen den Schiffen herumwandere und sauber mache.«
    Er sah mich fast gerührt an.
    »Ich sehe wohl, dass du verrückt wirst, ja. Diese Möglichkeit muss man in Betracht ziehen. Ich erinnere mich, damals, als ich auf der Kairouan fuhr, ist einer der Matrosen verrückt geworden. Er kam nicht mehr von der Gangway oder der Brücke runter. Unmöglich, ihn dazu zu bewegen, in die Gänge oder in den Maschinenraum runterzugehen, ausgeschlossen. Er litt plötzlich unter schrecklicher Klaustrophobie. Wir beschlossen, es zu übergehen, uns nicht um ihn zu kümmern, wir übernahmen seine Arbeit. Hofften, er würde wieder gesund werden, verstehst du? Und dann wurde es immer schlimmer: Er kauerte sich in einem Winkel auf der Brücke zur Kugel zusammen. Er saß die ganze Zeit nur noch im Freien, war durchnässt vom Nebel, vom Regen. Wir hatten ihm mit Gewalt Ölzeug über die Schultern gezogen. Der Kapitän fing an, sich Sorgen um ihn zu machen, er sagte, der hat wirklich einen Vollschuss, er holt sich eine Lungenentzündung, wir müssen etwas tun, bringt ihn runter in die Krankenstation. Wir machten ihn darauf aufmerksam, dass es vielleicht keine gute Idee sei, ihn einzusperren, wegen der plötzlichen Klaustrophobie, aber die Offiziere wollten davon nichts wissen. Fünf kräftige Kerle mussten ran, um ihn zu tragen, er wehrte sich, stemmte sich gegen die Rohre, klammerte sich verzweifelt an die Türen. Schließlich gelang es, ihn reinzukriegen, er heulte vor Entsetzen, als man die Tür verschloss, er hämmerte stundenlang mit der Faust dagegen und flehte, man möge sie öffnen, es war schlimm; ich sah etliche Männer, denen die Tränen in die Augen stiegen, als sie ihn hörten, und letzten Endes befahl der Kapitän, ihn sofort wieder herauszulassen. Als wir reingingen, war er nur noch ein stöhnendes Nervenbündel, er hatte sich vollgepisst, zitterte wie ein Epileptiker. Wir haben ihn vorsichtig an die frische Luft gebracht, aber es war zu spät, er war vollkommen gebrochen: Kaum hatten wir ihn losgelassen, sprang er über die Reling und stürzte sich in die Fluten – wir konnten ihn nicht mehr herausfischen.«
    »Was für eine schreckliche Geschichte. Ich hoffe, ich werde nicht so verrückt. Wenn ich allerdings noch lange hier im Hafen herumdümple, werde ich bis ans Ende meiner Tage den Diesel in der Nase haben, aber sonst kaum noch was.«
    Er sah von seiner Koje zu mir herunter und lachte.
    »Junge, ich glaube, es wird wirklich Zeit, dass du abhaust.«

Es hat länger gedauert als gedacht, »meine Flucht«, wie Saadi es nannte, zu organisieren, aber einmal mehr waren mir das Glück, das Schicksal oder der Teufel gewogen, und zwei Wochen später, Mitte Februar, marschierte ich zum ersten Mal auf europäischem Boden nicht nur zwischen Containern umher; ich erinnere mich, dass ich ohne Gepäck zu Fuß bis ins Stadtzentrum von Algeciras ging und dort in einer Bar meine ersten Euro für ein Bier und ein Thunfisch-Sandwich ausgab. Niemand beachtete mich, niemand sah mich an, ich war einer von vielen armen Mauren; ich versuchte Zeitung zu lesen, aber ich war zu aufgedreht und konnte mich nicht konzentrieren. Das Bier schmeckte nach Glück, möge Gott mir verzeihen. In meinem Pass hatte ich ein Visum für einen Monat, das mir aus »humanitären Gründen« gewährt worden war, das heißt, um mich zum Teufel zu scheren – ich durfte weder arbeiten noch in ein anderes europäisches Land reisen; es reichte gerade dazu, nach Tarifa zu kriechen, um von dort eine Fähre nach Tanger zu nehmen. Doch vorher wollte ich nach Barcelona und Judit besuchen.
    Beim Verlassen der Bar fragte ich den Wirt nach einem Webcafé, er zeigte mir eine Art Telekommunikationsbüro mit Computern zur freien Nutzung. Der Laden wurde von Marokkanern betrieben – ich weiß nicht, warum, aber ich schämte mich ein wenig, es wäre mir lieber gewesen, wenn es Spaniern gehört hätte. Ich schickte Judit eine Mail: Ya habibati, ich komme, wenn Du mich sehen willst. Ich habe ein Visum, ich bin aus dem Hafen raus. Ich kann den Bus von Algeciras nehmen und bin

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