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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Jahreszeit waren die Fluten der Meerenge gefährlich, die Pateras , die Flüchtlingsboote, legten weiter im Osten ab, um den Patrouillen aus dem Weg zu gehen, und sie riskierten mehr: Sie liefen aus, wenn die Dünung die Radarüberwachung erschwerte. Meine Arbeit wäre einfach, es würde sich in der Hauptsache um Transportaufgaben, Be- und Entladung, Sarglegung etc. handeln; er brauche einen Muslim, erklärte er, damit die Leichen nach den Vorschriften der Religion behandelt würden – der Imam der Moschee von Algeciras würde mir dabei helfen.
    Ich sollte also sein Muslim für alles sein. Als Schwarzarbeiter. An Ort und Stelle untergebracht. Ich nahm den Platz eines anderen jungen Marokkaners ein, der einige Zeit zuvor weggegangen war, um sein Glück in Madrid zu versuchen.
    Ich dachte an Saadi, diesen Mistkerl, der mir nicht gesagt hatte, welche Arbeit auf mich wartete. Dreihundert Euro, Kost und Logis frei und frische Wäsche. Das war nicht so schlecht.
    Die Vorstellung, echte Leichen nach Marokko zu überführen, nachdem ich dort virtuell gefallene Soldaten importiert hatte, war ziemlich aufbauend, bei Gott. Ich hatte noch nie einen Leichnam gesehen. Ich fragte mich, wie ich das verkraften würde. Ich dachte an Judit, ich wusste überhaupt nicht, ob ich Lust hatte, ihr zu schreiben, worin mein neuer Job bestand. Außerdem dürfte ihr das gleichgültig gewesen sein.

Die Wochen bei Señor Cruz bedeuteten ein abgrundtiefes Unglück. Ich lebte mit dem Tod. Ich wohnte in einem Gartenhaus hinter der Firma, einem Anbau voller Gartengeräte und Flaschen mit Unkrautvernichtungsmitteln, in dem es nach dem Benzin des Rasenmähers stank; der Motor der Kühlkammer schloss direkt an meine Hütte an und weckte mich jede Nacht mit seinen Vibrationen. Señor Cruz schloss mich abends, wenn er ging, hinter der Ummauerung ein und öffnete das Tor erst wieder, wenn er morgens kam – aus Angst vor den Kontrollen der Polizei oder der Sozialversicherung schränkte er meinen Bewegungsradius maximal ein und ließ nur selten Ausnahmen zu. Wenn ich etwas benötigte – Kleidung, Toilettenartikel –, kaufte er es mir selbst. Ich erhielt keinen Besuch. Nach neunzehn Uhr, wenn Señor Cruz wieder in seinen Geländewagen stieg, um nach Hause zu fahren, war ich mit den Särgen allein.
    Es gelang mir nicht, mich an den Kontakt mit den Leichen zu gewöhnen, glücklicherweise wurden nicht viele angeliefert – sie mussten ausgepackt und aus den Plastiksäcken gezogen werden, dabei trug man eine Atemschutzmaske; das erste Mal wäre ich fast ohnmächtig geworden, es war ein armer Ertrunkener, ein junger Mann in einem entsetzlichen Zustand; zum Glück war Cruz da – er hat den Leichnam auf dem Inox-Tisch vorsichtig gewendet, diese Überreste in eine luftdichte Zinkkiste gesteckt und den Schraubenzieher genommen, um den Sarg zu verschließen, alles schweigend. Mir verschlug es den Atem. Die Spezialmaske hinderte mich am Atmen, ihr Geruch nach Kampfer oder Eau de Javel vermischte sich in meiner Kehle mit den Ausdünstungen der Meerenge, mit dem Kadavergestank der Traurigkeit, mit dem vergessenen Leichnam, und noch heute, viel später, habe ich beim Geruch von Reinigungsmitteln einen widerlichen Geschmack im Hals, der mich an diese armen Jungs erinnert, an denen Cruz, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne zu zittern und voller Respekt seine Arbeit verrichtete.
    Dann kam der Imam, und wir beteten, hintereinander stehend, wie es sein muss, vor den sterblichen Überresten oder dem Sarg, je nach Zustand der Leiche; Cruz ließ uns machen. Der Imam war ein Marokkaner aus Casablanca, ein Mann mittleren Alters, den die Feierlichkeit des Amtes älter erscheinen ließ und dem der Ernst der Anlässe Glanz verlieh; er kannte kein Lächeln, zeigte nicht einen Hauch von Sympathie oder Antipathie, vielleicht, weil er sich so sicher war, dass wir vor Gott alle gleich sind.
    Das Gebet für unbekannte Tote, für die unbestimmbaren Überreste gänzlich fremder Existenzen, war eine traurig abstrakte Angelegenheit. Bei manchen waren wir nicht einmal sicher, ob sie Muslime waren; wir nahmen es an, doch vielleicht schickten wir sie zum falschen Gott, in ein Paradies, in dem sie einmal mehr Illegale waren.
    Nach dem Gebet brachten wir die luftdichten Zinksärge in die Kältekammer, wo sie zu den anderen »wartenden« Verstorbenen kamen. Der am längsten dort verweilende Sarg »wartete« seit drei Jahren, es war ebenfalls ein Ertrunkener aus der Meerenge.
    Die Regierung zahlte

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