Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
Vom Netzwerk:
Kirschen und Pfirsiche – danke, das war mir zu wenig. Man findet immer einen, dem es schlechter geht als einem selbst, verglichen mit diesen Galeerensklaven war ich wohlhabend, ich hatte die Schule besucht, ein wenig Geld und ein Land, in dem man schlimmstenfalls sein Leben fristen konnte – ich war ein Kind der Stadt, ich hatte Bücher gelesen, ich sprach Fremdsprachen, ich konnte einen Computer bedienen, ich würde schon irgendetwas zu arbeiten finden, und in der Tat fand ich sehr schnell eine Arbeit in der Nähe von Algeciras, dank Saadi natürlich, ich wäre selbst nie auf die Idee gekommen, mich in dieser Branche um einen Job zu bewerben, vorausgesetzt, dass es eine solche Branche wirklich gibt: Während ich in meiner stinkenden Pension ein paar Hundert Meter von der Ibn Battuta entfernt Trübsal blies und mir Judit mit ihrem neuen Typen vorstellte, schickte er mir eine SMS mit der Bitte, ihn anzurufen, was ich sogleich tat. Er hatte im Hafen mit einem »Unternehmer« aus der Gegend gesprochen, der einen Marokkaner für einen kleinen Job brauchte, und auf diese Weise trat ich in die Dienste des Bestattungsinstituts von Marcelo Cruz: Mein Glück spielte mir Streiche, es hatte mich noch nicht genug an der Nase herumgeführt, es wollte immer noch einen draufsetzen. Señor Cruz verabredete sich mit mir in einem Café im Stadtzentrum von Algeciras, er fuhr einen schwarzen Geländewagen, er parkte bedenkenlos in der zweiten Reihe, erkannte mich an meinem grünen Parka, sagte: Bist du Lakhdar?, mit strahlendem Lächeln erwiderte ich, ja, ich bin Lakhdar, ich bin der Freund von Saadi, er fragte mich, von wem? Ich sagte, vom Seemann von der Ibn Battuta , er sagte, ah, ja, gut, willst du für mich arbeiten, ich antwortete, ja, gerne, sehr gerne, worum handelt es sich? Nun, es ist eine sehr einfache Arbeit, sagte er, wir kümmern uns um Tote.
    Señor Cruz hatte ein ernstes und schwitzendes Gesicht, er trug ein bis zur Brust aufgeknöpftes Hemd und eine schwarze Lederjacke.
    Mir war nicht richtig klar, was das bedeutete, sich um Tote zu kümmern, abgesehen von meiner Erfahrung mit Frontsoldaten, aber ich nahm die Stelle natürlich an.
    Marcelo Cruz betrieb ein florierendes business ; jahrelang hatte er all die Leichen der illegalen Einwanderer eingesammelt, gelagert und in ihre Heimat überführt, alle Ertrunkenen, an Angst oder Unterkühlung Gestorbenen, die die Guardia Civil an den Stränden von Cádiz bis Almería auflas. Wenn Richter und Gerichtsmediziner die Leichen begutachtet und bestätigt hatten, dass der Arme oder die Armen wirklich tot waren, das Gesicht grau vom Meer, der Körper aufgedunsen, wurde Marcelo Cruz gerufen; er legte die sterbliche Hülle dann in seinem Kühlraum ab und versuchte herauszufinden, woher die Toten stammten, was kein Sonntagsspaziergang war, wie er sich ausdrückte. Es ist kein leichtes Handwerk , schärfte mir Señor Cruz ein, als wir in seinem Geländewagen zu seinem Bestattungsunternehmen einige Kilometer von Algeciras entfernt in Richtung Tarifa fuhren. Wenn es keine materiellen Hinweise und keine überlebenden Zeugen gab, wenn es unmöglich war, dem Toten einen Namen zuzuordnen, wurde der Verstorbene auf Staatskosten in einer anonymen Nische auf einem der Friedhöfe an der Küste bestattet; wenn man seine Herkunft herausfand, sei es, weil er einen Ausweis, eine handschriftliche Notiz oder eine Telefonnummer bei sich hatte, bewahrte man ihn so lange in einer Kühlkammer auf, bis eine Überführung in einem schönen, verplombten Zinksarg möglich war: Señor Cruz stieg dann in seinen Leichenwagen, nahm die Fähre in Algeciras und fuhr den Verstorbenen zu seiner letzten Heimstätte. Er kannte sich in Marokko aus wie in seiner Westentasche, die meisten seiner »Kunden« waren Marokkaner; ganze Dörfer begannen zu weinen, wenn sie seinen Bestattungswagen ankommen sahen. Nach eigener Aussage hatte Marcelo Cruz dort traurige Berühmtheit erlangt.
    Aufgrund der Krise und der besseren Radargeräte auf See liefen die Geschäfte in letzter Zeit offenbar nicht mehr so gut, deshalb überführte er vor allem Arbeiter, die sich legal in Spanien aufgehalten hatten und gestorben waren – Unfallopfer, an Krankheit oder Alter Verstorbene, alles, was der Sensenmann seinen Händen zu übergeben geruhte, der meine Landsleute, Gott sei Dank, ebenso dahinraffte wie die anderen; aber gegen Ende des Winters hoffte Cruz immer auf eine ansehnliche Lieferung von Leichen illegaler Einwanderer – in dieser

Weitere Kostenlose Bücher