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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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schallendem Gelächter einen gehörnten Bauernlümmel nannten; ich schämte mich für meine brennenden Augen. Ich verließ die Zelle, um zu zahlen.
    Auf dem Weg zurück in meinen Palast kaufte ich in einem Lebensmittelgeschäft, das noch geöffnet hatte, zwei Flaschen Bier, auf dem Bett ausgestreckt, trank ich sie leer und dachte dabei, dass ich jetzt wirklich ganz allein war. Ich riss Seiten aus einer alten Touristenbroschüre, die herumlag, um ein langes Gedicht für Judit zu verfassen oder einen Brief, aber ich brachte nichts zustande.
    Sie war mit einem anderen zusammen, so etwas riecht man; mit dem Alkohol wuchs nach und nach meine Wut, eine verzweifelte Wut in der Leere und dem Rauschen eines Erdteils, der soeben bedeutungslos geworden war, es blieb mir nichts übrig als dieses erbärmliche Zimmer, das ganze Leben mündete in dieser beschissenen Bude, ich war wieder eingesperrt, ich konnte nichts tun, nichts, man schaffte es nie heraus, immer stand etwas, standen Mauern im Weg. Ich dachte an diese Welt in Flammen, an Europa, das eines Tages wieder brennen würde wie Libyen, wie Syrien, eine Welt von Hunden, von Bettlern, die man aufgegeben hatte – es ist sehr schwierig, der Erbärmlichkeit zu widerstehen bei der ständigen Demütigung, in der uns das Leben festhält, und ich war böse auf Judit, ich war böse auf Judit wegen des Schmerzes in meiner Verlassenheit, wegen der Finsternis meiner Einsamkeit und wegen des Verrats, den ich hinter ihrer Verlegenheit vermutete, die Zukunft war ein Gewitterhimmel, ein bleierner Himmel, mit einem verplombten Norden, das Schicksal spielt sich häppchenweise ab, in kleinen Verschiebungen, in Summierungen winziger Kursabweichungen, die einen auf Klippen schleuderten, statt einen auf die paradiesische Insel zu bringen, nach der man sich so gesehnt hat, die Inseln unter dem Wind oder die Katzeninsel Celebes: Ich dachte an Saadi, an Ibn Battuta, an Casanova, an glückliche Reisende – ich hingegen klammerte mich in tiefster Traurigkeit allein in der europäischen Finsternis an ein lauwarmes Bier, und es gab in der Nacht von Algeciras keinen Leuchtturm, kein Licht, die Lichter von Barcelona, von Paris waren gelöscht, mir blieb nichts anderes übrig, als nach Tanger zurückzukehren, nach Tanger und zur elektronischen Erfassung der Namen von gefallenen Soldaten, ich hatte zu viele Schiffbrüche erlitten.

Alle diese Fügungen, diese Zufälle – ich weiß nicht, wie ich sie deuten soll; nennen wir sie Gott, Allah, Schicksal, Vorsehung, Karma, Leben, Glück, Unglück, wie man will – jedenfalls bin ich nicht sofort nach Barcelona gegangen, ich habe mich nicht beeilt, Judit wiederzusehen, weil ich überzeugt war, sie sei mit einem anderen zusammen, stimmt, aber auch, weil ich Angst hatte, Angst vor dem Verlust eines Zuhauses, vor der Armut, weil ich offenbar ein wenig feige war, was weiß ich. Ich war müde. Keine Revolution, keine Bücher, keine Zukunft. Ich konnte nicht nach Tanger zurückkehren, denn ich wusste, dass es für mich nicht mehr möglich sein würde, noch einmal den Absprung von dort zu schaffen, zumindest nicht Richtung Norden, höchstens auf illegale Weise; auf der Ibn Battuta hatte ich viele Geschichten gehört, schreckliche Geschichten vom Exil, von den Ertrunkenen in der Meerenge oder vor der Atlantikküste zwischen Marokko und den Kanarischen Inseln – die Afrikaner zogen die Kanarischen Inseln vor, weil sie schwieriger zu überwachen waren. Da alle diese Neger und Kameltreiber, die in den Straßen rumhingen, ohne etwas zu tun, dem Tourismus schadeten, schickte die Regierung der Kanaren sie auf eigene Kosten mit dem Flugzeug woandershin, damit sie auf dem Kontinent rumhingen, und so gelangten die Leute von südlich der Sahara, die Mauretanier, die Nigerianer und die Ugander, nach Madrid oder Barcelona, um ihr Glück in einem Land zu versuchen, in dem die Arbeitslosigkeit die höchste in ganz Europa war – die Mädchen wurden Nutten, die Männer landeten in illegalen und elenden Lagern auf dem Land, in Aragonien oder in der Mancha, versteckt zwischen zwei Bäumen, um inmitten von Müll und lecken Kanistern ein Landleben in der Kälte zu führen, sie bekamen prächtige Hautkrankheiten, Abszesse, Parasitosen, Frostbeulen, während sie darauf warteten, dass ein Landwirt ihnen irgendeine schwere Arbeit gab im Tausch gegen sein altbackenes Brot und seine Kartoffelschalen für ihre Suppe; im Winter sammelten sie Steine von den Feldern, im Sommer ernteten sie

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