Straße der Diebe
man musste bezahlen, uns fehlte es jedoch an Geld. Ich konnte vom Ausland aus kein Geld von meinem Konto in Tanger abheben. Meine Telefonkarte war für SMS -Nachrichten an Judit draufgegangen. Es war die blanke Not. Eine spanische Hilfsorganisation hatte uns Kleidung gebracht; ich hatte zwei zusammengeflickte Jeans ergattert, Hemden, die zu groß waren, einen gestreiften Pullover und einen alten, kakifarbenen Parka, der mit Synthetikwolle gefüttert war.
Judit schien keinerlei Interesse mehr an mir zu haben. Wenn ich zurückdachte, war unsere Beziehung in den vergangenen sechs Monaten lockerer geworden; wir schrieben uns nicht mehr so oft, wir telefonierten nicht mehr so häufig, und jetzt, da ich im Hafen von Algeciras festsaß, hörte ich fast nichts mehr von ihr, was mich in eine melancholische Traurigkeit stürzen ließ. Ich schüttete Saadi mein Herz aus, der Mitleid zeigte, mich aber zugleich ermunterte, alles zu vergessen; du bist zwanzig, sagte er, du wirst andere lieben. Er erzählte mir von Nutten und Bordellen rund um die Welt, wo er Lust und Gesellschaft gefunden hatte, eine riesige, in alle vier Himmelsrichtungen verstreute Familie. Er erinnerte sich an die Vornamen aller Mädchen, die er aufgesucht hatte. Er sagte, weißt du, wenn man im Linienverkehr ist, kehrt man regelmäßig in dieselben Häfen zurück, dort erwarten einen dieselben Puffs, dieselben Nutten, dieselben Freier. Man hört von diesem oder jenem, der hier eine Woche zuvor einen Zwischenstopp eingelegt hat; man trinkt etwas, spielt Karten – es geht nicht nur ums Bumsen. Es ist deine Freizeit.
Ich gebe zu, dass ich in meiner elenden Einsamkeit beim Zuhören davon geträumt habe, Stammgast in einem freundlichen Puff zu sein, wo die Mädchen mich mochten und die Puffmutter mit dem großen Herzen sich um mich kümmerte – dann fiel mir Zahra ein, die kleine Nutte aus Tanger, die ich nicht einmal zu berühren gewagt hatte, und diese Träume lösten sich in Luft auf wie alle anderen. Liebe in Bordellen war bestimmt etwas so Seltenes wie Haare auf der Möse einer marokkanischen Nutte.
Saadi war ein wenig wie ein großer Bruder oder Vater für mich, er sorgte sich um mich, stellte mir Fragen; ich erzählte ihm mein Leben, dabei rief er immer wieder oh, là là, sag bloß, Lakhdar, mein Sohn, du hast ja ganz schön einstecken müssen; er bedauerte, dass mein Vater so herzlos war; er teilte meine Zweifel bezüglich Bassam und Cheikh Nouredine. Er sagte leise, wenn du meine Meinung wissen willst, an alldem ist die Religion schuld, möge Gott mir verzeihen. Wenn es keine Religion gäbe, wären die Leute glücklicher.
Er verstand, dass ich Lust hatte zu emigrieren, Tanger zu verlassen – er sagte, mit diesem Kahn hast du nur leider nicht das richtige Mittel gewählt.
Die Tage zogen ins Land, und ich dachte immer mehr, sei’s drum, ich gehe nach Barcelona, ich finde einen Weg aus dem Hafen, komme, was da wolle. Und einige Stunden später dachte ich, sei’s drum, ich gehe nach Tanger zurück zu Monsieur Bourrelier.
Das Schlimmste war, dass ich außer der Zeitung in der Hafen-Cafeteria nichts zu schmökern hatte; ich konnte nicht in einer Endlosschleife Volles Leichenhaus lesen. Ich nutzte eine winzige Ausgabe des Korans, die mir eine gute Seele geschenkt hatte, ich verdarb mir die Augen, um einige Suren auswendig zu lernen, die Sure Joseph , die Sure Die Höhle, das war eine gute Übung.
Eine Lehre fürs Gefängnis.
Wir hatten keinerlei Verbrechen begangen, es war ein Vergehen der Reederei, aber wir wurden dafür in Haftung genommen. Seit bald zwei Monaten hatte ich meine Miete nicht bezahlt, ich fragte mich, ob ich nicht meine Koffer vor der Tür oder vielmehr in den Mülleimern finden würde, wenn ich zurückkehrte. Falls ich zurückkehrte.
Dass Judit nichts von sich hören ließ, machte mich zuletzt völlig verrückt. Der Februar war eiskalt; ein frostiger Wind wehte in der Meerenge, das Meer war gleichbleibend graugrün und von Schaumkronen durchzogen. Alle meine Kameraden waren deprimiert. Sogar Saadi zog ein finsteres Gesicht, sein Bart wurde weiß, er rasierte sich nicht mehr. Er verbrachte die meiste Zeit damit zu schlafen.
»So können wir nicht bis zum Jüngsten Tag warten«, sagte ich.
Er schreckte in seiner Koje hoch, richtete sich auf.
»Nein, recht hast du, das können wir nicht. Du jedenfalls kannst es nicht. Klar, ich könnte hier bleiben, bis ich in Rente gehe. Irgendwann werden sie ja wohl eine Lösung finden. In einem
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