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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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die eine Weile von einem besseren Leben geträumt hatten, die wie ich gedacht hatten, sie könnten sich einen Platz in seiner Welt erobern, und aus Respekt vor diesem Traum glaubte ich, ich könne mir einen Teil seiner Kohle aneignen, als kleine Rache für diese armen Märtyrer, die das Grauen des Ertrinkens, der Agonie in der schwarzen Einsamkeit der Fluten erlebt hatten.
    Je entschlossener ich war, desto mehr hielt mich nachts die Möglichkeit wach, zur Tat zu schreiten; wie konnte ich an den Tresorschlüssel gelangen, wie und um welche Uhrzeit abhauen – ich musste zu Fuß bis zur Bushaltestelle in dreihundert Meter Entfernung gehen und warten, bis der Bus der sehr unzuverlässigen andalusischen Überlandlinie zu kommen geneigt war. An diesem Punkt war ich am verletzlichsten, wie in den Romanen. Die Bücher und die Gefängnisse waren voll von Jungs, die riesige Dinger gedreht hatten und sich dann mühelos auf solche Weise schnappen ließen, an einer Bushaltestelle oder auf einer Café-Terrasse. Mir würde das nicht passieren. Bus, Busbahnhof, dreiundzwanzig Stunden Fernbus, und am nächsten Tag war ich in Barcelona, in der Menge verschwunden.
    Ich konnte mich nicht zur Tat durchringen. Cruz ließ sich mehr und mehr vom Internet hypnotisieren; er blieb bis spät am Abend, manchmal bis zehn Uhr, um seine Videos nach Todesarten zu durchforsten – er hatte eine Seite gefunden, die den Titel faces of death trug, auf der Hunderte gewaltsam zu Tode Gekommener versammelt waren: eine junge iranische Demonstrantin, getötet von den Ordnungskräften, ägyptische Revolutionäre, von der Polizei niedergestreckt, libysche Soldaten, die bei lebendigem Leib in ihrem Jeep verbrannten, massakrierte syrische Kinder, das Zeitgeschehen füllte das Internet mit Dokumenten für Cruz.
    An einem Tag, der besonders düster war, hatte die Meerenge einen alten, sehr entstellten Leichnam ausgespuckt, Spaziergänger fanden ihn am Strand – der Untersuchungsrichter kam, stellte fest, dass man die sterblichen Überreste sogleich vom Strand entfernen könne, der Gerichtsmediziner beschied auf Tod durch Ertrinken, und Cruz eilte mit seinem Leichenwagen herbei, um sich die Leiche vor der Konkurrenz unter den Nagel zu reißen: Es war sehr traurig und widerlich, der Typ hatte auf dem Herzen auf Arabisch »Selma« tätowiert, das war das Einzige, was zu seiner Identifikation vorhanden war. Er hatte kein Gesicht mehr, jedenfalls nichts, was erkennbar gewesen wäre, wir haben ihn schnell, sehr schnell in eine Zinkkiste gesteckt, um ihn nicht mehr zu sehen. Señor Cruz warf seine Gummihandschuhe weg, dann seine Maske; im Winkel seines rechten Auges hing eine kleine Träne, die er wegwischte, indem er sein Gesicht bei gestrecktem Arm am Bizeps abrieb. Er seufzte, drehte sich wortlos zu mir um, ging über den Hof zu meinem Verschlag, schwanzwedelnd folgten ihm die Hunde, denn sie dachten, er wolle mit ihnen spielen oder ihnen zu fressen geben; als er mit einer Flasche in der Hand wieder aus dem Gartenhaus kam, fragte ich mich, ob er dort einen Liter Scotch versteckt hatte, der mir nie aufgefallen war, aber das Gefäß sah kleiner aus als sein ewiger Cutty Sark. Er bedeutete mir, ihm ins Büro zu folgen; mit seiner dünnen Stimme sagte er:
    »Jetzt haben wir ein Glas verdient, Lakhdar, stimmt’s?«
    Er setzte sich wie üblich vor seinen Bildschirm, schüttelte die Maus, gab seinen Zugangscode ein; ich blieb bei ihm stehen.
    »Setz dich, setz dich, wir trinken einen Schluck und unterhalten uns ein wenig.«
    Ich suchte eine Ausrede, um verduften zu können, aber mir fiel nichts ein; ich war zu fertig von der Sarglegung, um nachzudenken – jedes Mal war ich total ausgelaugt.
    Ich setzte mich auf das Sofa. Ich betrachtete die Flasche, die er auf seinen Schreibtisch gestellt hatte; es war eine Glaskaraffe, die einen halben Liter fasste, das Etikett war zu ihm gedreht. Señor Cruz brauchte einen Rachenputzer; sein längliches Gesicht war blass, er hatte Ringe unter den Augen. Er rief ein Video auf, aus Reflex – eine Sekunde lang starrte er auf den Bildschirm, dann stoppte er den Aufzug von Todesbildern, die ich nicht sah.
    »So, Lakhdar, einen kleinen Whisky?«
    Plötzlich war er außerordentlich nervös, er ging zur Küche, kam mit zwei Gläsern und dem Eis in einem Blecheimer zurück.
    Er schnappte sich unverzüglich eine Flasche Cutty vom Regal, öffnete sie, goss in null Komma nichts den Whisky in die Gläser, warf zwei Eiswürfel in jedes und kippte

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