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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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und weint, möchtest du sie nicht wiedersehen? Meine Mutter? Natürlich möchte ich das, erwiderte Hassan, dem es das Herz bei dieser Erinnerung zusammenschnürte, natürlich, aber es ist nicht möglich, sie ist weit weg. Eines Tages schlug ihm der Bettler vor, ihn auf dem Friedhof zu treffen, und Hassan der Verrückte nahm das Angebot an; der Bettler forderte ihn auf, die Augen zu schließen und sich an sein Gewand zu klammern, und als er die Augen wieder öffnete, stand Hassan vor seinem Haus im Irak. Er verbrachte fünfzehn Tage bei seiner Mutter. Zwei Wochen später begegnete er dem Bettler auf dem Friedhof des Dorfes; der Bettler schlug ihm vor, ihn auf dieselbe Weise zurück nach Mekka zu seinem Herrn Najm Ed-Din Isfahâni zu bringen, er solle sich mit geschlossenen Augen an das Gewand aus Beiderwand klammern, er müsse ihm jedoch versprechen, niemandem von dieser Reise zu erzählen. Isfahâni war beunruhigt über das lange Ausbleiben seines Dieners, fünfzehn Tage ist keine Kleinigkeit – Hassan erzählte ihm schließlich die Geschichte von dem Bettler, und Isfahâni wollte den fraglichen Mann des Nachts sehen: Hassan führte ihn zur Kaaba, deutete auf den Landstreicher und rief, Herr, das ist er! Das ist er! Sofort legte ihm der Bettler die Hand auf den Mund und sagte, bei Gott, du sprichst nie wieder, und so geschah es; der Bettler verschwand, und Hassan umrundete das Heiligtum jahrelang stumm und verrückt, ohne Gebete zu sprechen, ohne die Waschungen zu vollziehen. Die Leute aus Mekka sorgten für ihn, ernährten ihn wie einen fremden Heiligen, denn Hassans Segen steigerte die Verkäufe und die Gewinne; Hassan der Verrückte wandelte in ewigem Schweigen unablässig auf seiner Kreisbahn um den schwarzen Stein, weil er seine Mutter hatte wiedersehen wollen, weil er ein Geheimnis verraten hatte, und bei den kleinen Leichen von Cruz, unter den Hunden, betete ich in meiner Finsternis, ein bettelnder Zauberer möge mich eine Zeit lang aus der Dunkelheit herausholen, mich in das Licht von Tanger zurückbringen zu meiner Mutter, in Meryems, in Judits Arme, bevor er mich wie einen zerbrechlichen Meteoriten jahrelang um den Planeten wirbeln ließe. Heute denke ich wieder an diesen finsteren Abschnitt, an dieses erste Gefängnis in Algeciras, dieses Vorzimmer, während die Verlorenen um mich herum sich im Kreis drehen, blind umherwandern, ohne Hilfe in Büchern zu finden; in Wirklichkeit nutzte Cruz die Möglichkeiten dieser Welt, die Fasti des Todes; er lebte wie jene Börsianer, diese Würmer, Heuschrecken, die auf Kadavern herumwimmeln, und er hatte sein eigenes Selbstbild, sicher meinte er Gutes zu tun; er leistete einen Dienst; er war ein Parasit, lebte vom Elend, doch ebenso gut könnte man einem Hund vorwerfen, dass er beißt. Er war der Wächter des Schlosses, der Fährmann der Meerenge, auch er ein Verlorener in seinem Totenwald, der sich in der Finsternis ewig im Kreis drehte.

Vielleicht hat dieser lange Umgang mit Leichen mir die Sache erleichtert; diese zwei Monate mit dem Tod haben bewirkt, dass es mir nicht mehr schwerfiel, mich mit dem Gedanken anzufreunden, Señor Cruz auszurauben – er war wie vorgesehen nach drei Tagen zurückgekehrt, erschöpft, wie er sagte, von der Fahrt mit dem Lastwagen bis ins hinterste Marokko. Er schien glücklich, mich wiederzusehen.
    Er erzählte mir von seiner Reise, die sehr gut verlaufen war, er hatte seine fünf Leichen bei Beni Mellal abgeliefert; er hatte Glück gehabt, dass es für alle derselbe Ort war, was zugleich praktisch und schrecklich war. Wie üblich hatten die Frauen entsetzlich geweint, die schrillen Schreie gellten ihm in den Ohren, die Männer hoben die Gräber aus, und das war’s. Die Zeit reichte ihm gerade noch, um in Casa für eine Nacht haltzumachen und sich einen Gaumenschmaus zu genehmigen, er gab diesen Worten, einen Gaumenschmaus , mit seiner schmächtigen Stimme einen so traurigen Ton, dass es sich ebenso gut um seine Henkersmahlzeit hätte handeln können.
    Cruz goss sich einen Whisky ein.
    Er hieß mich ihm gegenüber auf einem Sessel Platz nehmen, bot mir ein Glas an, was ich ablehnte.
    Er sagte nichts, die ganze Szene sah nach einem Gespräch aus, nach Vertraulichkeiten, aber er schwieg; er trank seinen Cutty Sark und warf mir unterdessen ab und zu einen Blick zu, ich spürte, wie ich immer nervöser wurde.
    Ich versuchte zu reden, Fragen zu seiner Reise in Marokko zu stellen, doch wenn überhaupt, dann antwortete er einsilbig.
    Er

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