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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Rücken gekrümmt, seine Augen würden gleich platzen. Sein Körper war ein Eisenkabel, das der endlose Schmerz spannte, er versuchte zu sprechen, versuchte sich an mich zu klammern, aber seine weit geöffneten Hände wanden sich nach außen, seine Finger spreizten sich grauenvoll ab – der Anfall dauerte etwa zwanzig Sekunden, vielleicht etwas länger, dann wich die Spannung; er entspannte sich, seufzte dabei, stöhnte, er atmete sehr schnell, ich schrie, Señor Cruz, wie ist die Notrufnummer? Die Nummer für den Notarzt? Er antwortete nicht, ich rannte zum Telefon, ich wählte hektisch die 15 wie in Marokko, ich bekam keine Verbindung; meine Augen überflogen den Schreibtisch, ob ein Telefonbuch dalag, nein.
    Plötzlich packte Cruz ein zweiter Krampf, der noch heftiger war als der erste, wenn das überhaupt möglich war; seine Augenlider wurden fast vollständig in die Augenhöhlen hineingezogen, verschwanden hinter den Augäpfeln, es war schrecklich anzusehen, sein Gesicht war rot und blau, seine Füße konnten die dicken Plastiksohlen umbiegen wie Karton, er richtete sich auf, die völlige Anspannung aller Muskeln riss ihn hoch, er stieß einen schrillen Schrei aus, der aus der tiefsten Tiefe seines Brustkorbs zu kommen schien – mir stiegen die Tränen in die Augen, Señor Cruz, Señor Cruz, ich wusste nicht, was ich tun sollte, einen Nachbarn holen, fiel mir ein, ich rannte hinaus, bereit, die zweihundert Meter bis zum nächsten Haus zurückzulegen oder ein Auto auf der Straße anzuhalten, im Hof erinnerte ich mich daran, dass die verdammte Hofeinfahrt noch immer abgeschlossen war, statt alles daranzusetzen, drüberzuklettern, rannte ich zurück, um den Schlüssel aus Cruz’ Tasche zu holen, damit ich Hilfe hereinlassen könnte.
    Cruz lag auf seiner linken Seite, sein Körper bildete einen entsetzlichen Halbkreis, der Rücken war gekrümmt wie ein Bogen ohne Sehne, das Becken nach vorn gedrückt, die Füße wölbten sich außergewöhnlich konvex; er war ein Tänzer aus einem monströsen Ballett, sein gebogener Nacken und sein weit aufgerissener Mund brachten die grauenhafte Position zur Vollendung. Bis zu den äußersten Zehenspitzen war alles an dieser angespannten Erstarrung beteiligt, ohne dass man hätte erkennen können, welche Kraft dafür verantwortlich war. Er war tot. Ich trat näher, ich hatte nichts mehr im Kopf, nicht einmal ein Gebet.
    Cruz war zu den Ertrunkenen der Meerenge gegangen.
    Die einzige Bewegung an dieser Fleischmasse war das Ticken seiner Uhr, die achtzehn Uhr dreiundvierzig anzeigte.

Ich war einige Minuten wie betäubt, kniete vor dem reglosen Körper, bevor ich mich wieder fasste; natürlich verstand ich nichts, ich habe lange gebraucht, um das Übel zu verstehen, das an Cruz in seiner Einsamkeit nagte; er hatte mich mit seinem Tod besprüht, er hatte mir seine Agonie dargeboten, ein grausames Geschenk – ich begriff, dass er sich vor meinen Augen vergiftet hatte; ich ließ mir Wasser übers Gesicht laufen, Abertausende von widersprüchlichen Gedanken bohrten sich durch meinen Kopf, und jetzt erst schaute ich mir die kleine Flasche auf dem Schreibtisch genauer an, das Etikett trug einen weißen Totenkopf auf rotem Grund. Ich drehte mich einen Augenblick lang im Kreis, auf, mach schon, jetzt musst du handeln; ich nahm den Schlüsselbund von Cruz an mich.
    Ich durchwühlte sorgfältig die Schreibtischschubladen, ohne etwas Wichtiges zu finden außer meinem Pass; ich schloss den kleinen Tresor mit dem kreuzförmigen Schlüssel auf, er enthielt viele Dokumente, mit denen ich nichts anfangen konnte, und beinahe fünftausend Euro Bargeld. Ich wurde zum Dieb. Davon ließ sich in Barcelona oder sonst wo einige Zeit leben. Das Geld der Toten, das war also die Sauerei, dachte ich.
    Natürlich würde die Polizei kommen. Ich hatte überall meine Fingerabdrücke hinterlassen, sogar auf der Giftflasche, ich war der größte Idiot.
    Ich holte meine Sachen, packte sie in eine ziemlich lächerliche, blau-gelbe Sporttasche mit den Abzeichen des Fußballklubs von Cádiz, die ich in meiner Kammer fand.
    Die Angst wich allmählich von mir. Ich vermied es, einen letzten Blick auf Cruz zu werfen, zum Abschied streichelte ich lange die Hunde, dann ging ich zum Bus.

Ein wenig später auf seiner Reise, bei seinem Aufenthalt in der Stadt Bolgar an der Wolga, äußert Ibn Battuta den Wunsch, das Land der Finsternis zu besuchen, von dem in der Legende Alexanders des Großen die Rede ist; als er erfährt,

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