Straße der Diebe
dass man nur in einem von riesigen Hunden gezogenen Schlitten durch die Eismassen gelangt, die das Land umgeben, verzichtet er schließlich darauf, dorthin zu reisen – er begnügt sich damit, davon zu hören, zu erfahren, dass die Pelzhändler dort mit geheimnisvollen, in völliger Dunkelheit lebenden Bewohnern um die Felle feilschen: »Nachdem sie vierzig Tage diese Eiswüste durchquert haben, gelangen die Reisenden ins Land der Finsternis. Die Händler lassen die Quersäcke mit der Handelsware in einiger Entfernung von ihrem Lager liegen. Am nächsten Tag kehren sie zu den Packstücken zurück, um sie zu inspizieren, und finden anstelle ihrer Waren Felle von Mardern, Eichhörnchen und Hermelin. Wenn ihnen die Felle gefallen, nehmen sie sie, wenn nicht, lassen sie alles noch eine Nacht liegen. In diesem Fall erhöhen die Bewohner des Landes der Finsternis die Zahl der Felle oder legen, wenn sie mit den Handelsbedingungen nicht einverstanden sind, die Waren der Reisenden wieder an ihren Platz. So treibt man Handel im Reich der Finsternis, und wer dorthin reist, weiß nicht, ob er mit Menschen oder mit Dschinns handelt, weil er nie jemanden sieht.«
Ich verließ Algeciras mit dem Gefühl, dass die Welt leer war, nur von Gespenstern bevölkert, die nachts erschienen, um zu sterben oder zu töten, um zu lassen oder zu nehmen, ohne sich je zu sehen oder untereinander in Verbindung zu treten, und während der langen nächtlichen Busfahrt, die mich nach Barcelona brachte, der Stadt des Schicksals und des Todes, kam es mir auf entsetzliche Weise so vor, als durchquerte ich das Land der Finsternis, der wahren, nämlich unserer Finsternis, und je weiter der Bus in der Dunkelheit auf der Autobahn vorankam, zwischen Almería und Murcia, umso mehr setzte sich das Grauen in mir fest, dessen Zeuge ich gewesen war: Immer wieder erschien mir Cruz’ von Krämpfen verzerrtes Gesicht, feucht und violett, zwischen den Lichtblitzen der Lastwagenscheinwerfer, mitten in den Spiegelungen auf meiner Fensterscheibe.
Cruz war bei den Schatten und ich auch.
Außerstande, auch nur ein Auge zuzumachen, verfolgt von unheilvollen Bildern, von vom Meer zerfledderten Leichen und dem Gesicht von Cruz, der mir seine Agonie vorführte, wartete ich auf die befreiende Morgendämmerung, während der Reisebus schon fast in Alicante war.
III STRASSE DER DIEBE
Am 3. März kam ich in Barcelona an – Tanger hatte ich vor mehr als vier Monaten verlassen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. In meinem grünen Parka, mit der Sporttasche aus den Achtzigerjahren, den Ringen unter den Augen und dem schwarzen Bart sah ich wahrscheinlich aus wie ein Armer unter Armen – sollten mich je Polizisten festhalten und filzen, könnte ich ihnen schwerlich erklären, wo die vielen Tausend Euro Bargeld herkamen, die ich bei mir trug. Nach dem Geld von Cheikh Nouredine besaß ich jetzt welches von Cruz, als ob Gott es immer so einrichtete, dass ich die notwendigen Mittel für meine Reise hatte; ich ließ mich vom Schicksal durchfüttern.
Der Reisebus fuhr die Avinguda Diagonal hinunter, die Palmen streichelten die Banken, die vornehmen Gebäude aus vergangenen Jahrhunderten spiegelten sich im Glas und Stahl moderner Bauwerke, die zahllosen schwarz-gelben Taxis waren wie Wespen, die vor dem hupenden Bus auseinanderstoben; an den Kreuzungen warteten elegante und disziplinierte Fußgänger geduldig, ohne die Übermacht auszunutzen, die ihnen ihre Anzahl verlieh, um die Straße zu überfluten; und selbst die Autos beachteten die Fußgängerüberwege, hielten sorgfältig vor den orange blinkenden Ampellichtern an und ließen jeden Fußgänger passieren, sobald er an der Reihe war. Die Schaufenster schienen mir voll von Luxusartikeln zu sein; die Stadt war einschüchternd, aber endlich hier anzukommen erfüllte mich trotz meiner Erschöpfung mit neuer Energie, als würde der riesige schillernde Phallus des Hochhauses im Hintergrund des Häusermeeres wie eine heidnische Gottheit seine Kraft auf mich übertragen.
Ich blinzelte im Mittagslicht; ich schnappte meine Tasche; der Busbahnhof Estació del Nord grenzte offensichtlich an einen Park; etwas weiter unten zum Meer hin lag der Bahnhof Barcelona-Franca, und dann, zur Rechten, kam der Hafen. Ich suchte eine Telefonzelle und rief Judit an, sie nahm ab, und als ich ihre Stimme hörte, muss ich so erschöpft gewesen sein, dass ich zu weinen begann wie ein Kind. Ich bin’s, sagte ich, Lakhdar, ich bin in Barcelona. Trotz
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