Straße der Diebe
zu trinken.
Als ich meine Mails abrufen ging, wartete eine Überraschung auf mich: eine Nachricht von Cheikh Nouredine. Er schrieb mir aus Saudi-Arabien, wo er für eine religiöse Stiftung arbeitete; er erkundigte sich danach, was ich so trieb. Ich schrieb ihm zurück, dass ich in Spanien sei, ohne genauer auf meine traurige Beschäftigung einzugehen. Ich überlegte, ob ich ihm vom Brand im »Haus der Verbreitung des koranischen Gedankenguts« erzählen sollte, ich fragte mich, ob er auf dem Laufenden war. Sein Brief war freundlich, fast brüderlich; mein Verdacht über seine mögliche Beteiligung am Attentat von Marrakesch schien mir jetzt lächerlich, auch wenn das Geheimnis seines plötzlichen Verschwindens keineswegs gelüftet war – ich fragte ihn, ob er wisse, wo Bassam sei.
Wehmütig dachte ich an die langen Lesungen im »Haus der Verbreitung« zurück, als wir auf dem Teppich ausgestreckt lagen. Tanger war weit weg, in einer anderen Welt.
Ich schrieb ausführlich an Judit, um ihr ein wenig mein Sklavenleben in Algeciras zu erläutern; die Leichen erwähnte ich nicht, nur die Wartungsarbeiten, die Hausarbeit und den seltsamen Cruz. Ich sagte ihr, ich hoffe, sie bald wiederzusehen.
Ich rief Saadi an, um mich mit ihm zu einem Kaffee im Zentrum von Algeciras zu treffen; er hatte ein Visum, er konnte kommen und gehen, wann er wollte, so ungerecht waren die Behörden: Je älter man war, je weniger man Lust dazu hatte, desto einfacher war es, sich frei zu bewegen.
Er freute sich, mich wiederzusehen, ich mich auch. Ich fragte ihn, ob es Neuigkeiten von der Schifffahrtsgesellschaft gebe – die marokkanische Regierung stehe unmittelbar vor einer Lösung, erklärte er. Ich hätte noch Zeit, davon zu profitieren, meinte er.
Ich zögerte. Es war eine Möglichkeit, von Cruz wegzukommen; zugleich wäre es aber auch ein endgültiger Abschied von Judit. Ich war mir sicher, wenn ich nach Tanger zurückkehrte, würde es mir nahezu unmöglich sein, wieder nach Spanien zu gelangen.
Saadi erriet den Grund für mein Zögern, er fragte nicht nach.
Ich erzählte ihm von meiner Zeit bei Cruz, von der immensen Traurigkeit bei dieser schrecklichen Arbeit, er hörte mir mit großen Augen zu und schüttelte bisweilen seinen grauen Kopf; er sagte, mein Sohn, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich nicht in diese Kloake geschickt – ich bemühte mich, ihn zu beruhigen, und sagte ihm nicht besonders überzeugt, dass ich dadurch zu etwas Geld kommen würde, um in ein oder zwei Monaten nach Barcelona zu fahren.
Wir blieben bis zum Abend auf derselben Kaffeehausterrasse sitzen, genossen die Brise, das langsame Wiegen der Palmen, die ein wenig Schatten auf den Platz warfen. Dann kehrte er zur Fähre zurück. Er schloss mich in seine Arme und sagte, bist du sicher, dass du nicht mit mir aufs Schiff zurück willst? Es fällt mir schwer, dich dorthin zurückzuschicken.
Ich zögerte eine Sekunde, es war verlockend, mit ihm mitzugehen, in den schwimmenden Käfig der Ibn Battuta zurückzukehren, wo wir vor allem sicher waren, außer davor, aus Unachtsamkeit barfuß auf eine Kakerlake zu treten.
Schließlich lehnte ich ab, ich versprach, ihn bald anzurufen, und nach einer letzten Umarmung stieg ich in meinen Bus.
Ich nutzte die Abwesenheit meines Chefs auch dazu, einen Plan zu entwerfen. Ich wusste, dass er – zumindest wenn er da war – eine gewisse Summe Geld in einem kleinen Tresor für Barzahlungen bereithielt, dass dieser Tresor einen Schlüssel hatte und dass er den an seinem Schlüsselbund mit sich herumtrug.
Auf den Einfall mit dem Diebstahl hatte mich der Krimi gebracht, den ich gerade las, das heißt alle Krimis, die ich gelesen hatte. Lebte ich denn nicht eingeschlossen in einen düsteren Roman, in einen echten roman noir – und war es nicht logisch, dass mir diese Lektüren einen Weg wiesen, wie ich herauskommen konnte?
Ibn Battuta erzählt in seinem Reisebericht, dass er bei seinem Besuch in Mekka einer merkwürdigen Gestalt begegnet, einem Stummen, den alle Bewohner Mekkas kennen und den sie Hassan den Verrückten nennen, der unter merkwürdigen Umständen seinen Verstand verloren hat: Als er noch geistig auf der Höhe war, erfüllte Hassan seine rituellen Pflichten und umrundete bei Dunkelheit die Kaaba, wobei er jeden Abend an der heiligen Stätte einen Bettler traf – sie begegneten sich nie bei Tag, nur nachts. Eines Nachts also wandte sich der Bettler an Hassan: He, Hassan, deine Mutter sehnt sich nach dir
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