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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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leerte sein Glas, bot mir höflich wieder eines an, bevor er sich nachgoss.
    Nach einer endlosen Viertelstunde des Schweigens, in der mein Blick von meinen Knien zu seinem undurchdringlichen Gesicht wanderte, verließ ich ihn mit der Entschuldigung, ich müsse noch die Hunde füttern; er nickte zustimmend, ein kurzes Lächeln begleitete die Kopfbewegung.
    Draußen im Hof stieß ich erst mal einen Seufzer aus, ich zitterte wie Espenlaub. Durch die Fensterscheibe sah ich Cruz’ dickes Gesicht vom elektrischen Blau des Bildschirms umstrahlt; er war wieder zur stumpfsinnigen Betrachtung aller Todesarten zurückgekehrt.
    Ich spürte, ich war in Gefahr; Angst ergriff mich, eine machtvolle, irrationale Angst; ich kniete zwischen den Kötern, ihre Schnauzen wühlten unter meinen Achseln, ihr weiches Fell und ihr klarer Blick trösteten mich ein wenig.

Cruz schien noch immer zu schwanken, ob er sprechen sollte oder nicht.
    Ich war nie zuvor mit dem Wahnsinn in Berührung gekommen, sollte Cruz wahnsinnig sein? Er schwang keine unvernünftigen Schmähreden, schlug nicht mit dem Kopf gegen die Wände, aß nicht seine Exkremente, war nicht von Wahnvorstellungen oder Visionen besessen, doch er lebte im Bildschirm, und im Bildschirm spielten sich schreckliche Szenen ab: alte Fotos von chinesischen Strafen oder an Pfosten gebundene Männer, die bluteten, die Brust von Henkern mit langen Messern aufgeschlitzt, die Gliedmaßen amputiert; afghanische und bosnische Enthauptungen; Steinigungen, ausgeweidete Bäuche, Fensterstürze und zahllose Kriegsreportagen. Alles in allem sind Spielfilmszenen weit besser aufgenommen, viel realistischer als die Dokumentarfilme oder Fotoabzüge vom Beginn dieses Jahrhunderts, und ich fragte mich, warum Cruz in seinen Bildern vor allem nach dem Etikett der »Echtheit« suchte; er wollte die Wahrheit, aber welchen Unterschied machte das schon: Er hatte die Kühlkammer voller echter Leichen, er kannte sie aus nächster Nähe, er hatte seit Jahren mit ihnen zu tun, und ich frage mich noch heute, was ihn zu dieser krankhaften virtuellen Beobachtung trieb, er hätte vom Tod geheilt sein müssen, und doch verschlang er kilometerweise Bilder von Folterungen und Massakern, was suchte er darin, eine Antwort auf seine Fragen, auf Fragen, die die Leichen nicht mehr beantworten konnten, eine Hinterfragung des Augenblicks des Todes, des Augenblicks des Übergangs, vielleicht – oder vielleicht hatten ihn die Bilder einfach geschluckt, die Leichen hatten ihn aus der Wirklichkeit vertrieben, und er kramte vergeblich in der Cyberwelt, um dort etwas vom Leben zu finden.
    Von Tag zu Tag machte er mir immer mehr Angst, ohne Grund – er war die harmloseste aller Kreaturen; er war geduldig mit mir, sanft zu seinen Hunden, respektvoll zu den Toten. Jeden Tag zögerte ich, meinen Pass von ihm zurückzufordern und meine Siebensachen zu packen, adieu, Herr Cruz, ich pfeif’ auf die Knete, adieu, ihr Ertrunkenen und das bläuliche Licht der Folterungen auf YouTube, komme, was wolle – aber beruhigt durch die Gesellschaft der Hunde, durch die Weichheit ihres Fells, durch ihr friedliches Japsen, begann ich jeden Abend aufs Neue in meinem Verschlag von den zwei- oder dreitausend Euro im Tresor von Cruz zu träumen, die der Diebstahl mir vielleicht einbringen würde. Ich hatte einen Plan ausgesponnen, eine jener Maschen, die nur in Büchern funktionieren, bis man sie ausprobiert: in die Stadt gehen und einen ähnlichen Schlüssel kaufen, es war vielleicht ein gängiges Modell, den Schlüssel am Schlüsselbund austauschen, den er oft im Eingang herumliegen ließ – natürlich würde man mit dem neuen Schlüssel den Tresor nicht öffnen können, doch bis er es gemerkt hätte, wäre ich mit etwas Glück schon über alle Berge.
    All die Leichen, die ich wusch und in ihre Kisten packte, rechtfertigten meinen kleinen Diebstahl, dachte ich – zwar übte Señor Cruz ein ehrbares Gewerbe aus, er tötete diese armen Menschen nicht selbst, er war barmherzig, er saugte die Familien der Verstorbenen nicht aus, seine Beute war der Staat, die Autonome Gemeinschaft Andalusien, die ihm sein per diem für die Kadaver meiner Landsleute bezahlte, aber all die Reichtümer, die ich ihn anhäufen sah, seine goldenen Ringe, seine Halsketten, seine schwarzen Hemden, sein Auto, seine beiden blauäugigen Schlittenhunde im Schatten seines wilden Weins, das alles kam mir vor, als hätte er es den Toten gestohlen, als gehörte es diesen namenlosen Toten,

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