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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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meines Schniefens schien sie sich zu freuen; sie fragte mich, wo ich sei, ich sagte, am Nordbahnhof; sie wollte mich in der Nähe des Bahnhofs treffen, in einem Viertel, das Born heißt, doch dann meinte sie, nein, das ist zu kompliziert, das findest du nie, bleib, wo du bist, ich hol’ dich ab, gib mir eine Viertelstunde. Ich sagte, danke, danke, ich legte auf, mir wurde irgendwie schwarz vor Augen, ich musste mich vor der Telefonzelle auf den Boden setzen. Ich dankte Gott, sprach ein kurzes Gebet, ich schämte mich ein wenig dafür, dass ich mich an Ihn wandte.
    Lange Minuten blieb ich dort sitzen mit geschlossenen Augen, den Kopf in die Hände gelegt, bis ich mich wieder erholt hatte. Ich wollte stark wirken, wenn Judit eintraf – ich fühlte mich schmutzig, ich hatte den Eindruck, nach Kadaver, Leichenhalle, Hass zu stinken; wir hatten uns seit dem letzten Sommer nicht gesehen, ob sie mich wiedererkannte?
    Und dann durchströmte mich wieder die Kraft des Einzigartigen Hochhauses.
    Die Kraft des Begehrens.
    Die ersten Minuten waren sehr seltsam.
    Wir umarmten uns nicht, sondern lächelten uns zu; wir waren beide gleichermaßen verlegen. Wir tauschten einige Banalitäten aus, sie musterte mich von Kopf bis Fuß, ohne zu einem Schluss zu kommen – oder zumindest ohne zu verraten, zu welchen Schlüssen sie gekommen war; sie fragte mich nur, willst du etwas frühstücken? Was mir eine ganz eigenartige Frage schien, ich sagte, ja, warum nicht, und wir marschierten los Richtung Innenstadt.
    Ich erzählte ihr von den letzten Wochen bei Cruz, sparte seinen schrecklichen Tod dabei selbstverständlich aus. Sie zeigte Anteilnahme, und meine Feigheit war so groß, dass ich mir wünschte, sie würde mich bedauern, damit sie sich mir zärtlich zuwandte. Sie wiederzusehen ließ mir das Herz klopfen; ich wollte nur noch eines, dass sie mich in ihre Arme schloss; ich wollte mich neben sie legen, mich an sie schmiegen und so schlafen, von ihrer Wärme umhüllt, und das mindestens zwei Tage lang. Auf unserem Weg kamen wir an einem Triumphbogen aus rotem Backstein vorbei, von dem eine breite, von Palmen und eleganten Gebäuden gesäumte Promenade ausging. Ich hoffte insgeheim, dass der Ort, den wir anpeilten, nicht allzu chic sein würde, ich wollte mich nicht für meine Aufmachung schämen müssen. Zum Glück führte sie mich in eine Bar an einem hübschen kleinen Platz, der ruhig und schattig war. Ich musste mich zwingen, etwas zu essen.
    Ich schaffte es nicht, Judit Fragen zu stellen, zumindest nicht die Fragen, die ich ihre gerne gestellt hätte; ich erkundigte mich nach Barcelona, nach der Geografie, der Lage der Stadtteile, aber ich fragte nichts Privates; es war alles furchtbar oberflächlich. Sie vermied es, mir in die Augen zu blicken. Langsam überkam mich Traurigkeit. Ich hatte das Gefühl, der Boden würde mir unter den Füßen weggezogen, die Zeit verrann zäh, wurde ein schwerer und fühlbarer Stoff, Judits Gesicht schien sich verfinstert zu haben, sie hatte sich das Haar geschnitten, was ihr ein etwas strengeres Aussehen gab. Sie sprach mit mir jetzt vor allem über Politik; über die Krise in Europa, über das harte Leben, die Arbeitslosigkeit, die Armut, die wie aus dem Bodensatz der spanischen Geschichte wiederkehrte, über Konflikte, Rassismus, Spannungen, über den sich anbahnenden Aufruhr. Seit einigen Monaten stand sie in enger Verbindung zur Bewegung der Indignados. Auch zur Occupy-Bewegung, sagte sie. Nie war die Unterdrückung so gewalttätig. Tags zuvor, als die Polizei ein friedliches Sit-in auflöste, hatte wieder ein Demonstrant, ein zwanzigjähriger Student, durch ein Gummigeschoss ein Auge verloren. Mit Spanien geht es zu Ende und mit Europa auch. Die ultraliberale Propaganda gaukelt uns vor, man könne sich dem Diktat der Märkte nicht widersetzen. Hier würden Arme, Alte und Ausländer bald keine medizinische Hilfe mehr bekommen. Im Augenblick würde die Revolte nicht offen ausbrechen, weil es den Fußball gebe, Real, Barça; doch wenn dies nicht mehr ausreicht, um die Frustration und das Elend zu kompensieren, sagte sie, wird es zum Aufstand kommen.
    Ich schaute sie an, ich hatte Lust, ihre Hand zu nehmen, keine Lust, über die Krise zu sprechen. Manchmal tauchte in der Erinnerung das Gesicht von Cruz auf, schob sich zwischen Judit und mich; dann musste ich den Kopf schütteln, damit es wieder verschwand.
    Sie langweilte sich an der Uni. Sie war im letzten Jahr, hatte wenige Fächer, nicht viele

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