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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Seminare und den Eindruck, noch immer eine Null in Arabisch zu sein, wie sie meinte. Sie hatte keine Ahnung, was sie danach anfangen sollte, sie hatte Lust, für einige Zeit ins Ausland zu gehen, vielleicht nach Ägypten oder in den Libanon, denn Syrien stand in Flammen – es verletzte mich, dass sie Marokko nicht erwähnte, ich muss ziemlich komisch geguckt haben, sie wechselte sofort das Thema.
    »Und was hast du vor? Was wirst du tun, willst du versuchen, hier zu bleiben?«
    »Keine Ahnung, das hängt ein wenig von dir ab.«
    Sie senkte den Blick, und da wusste ich, dass alles, was ich mir vorgestellt hatte, wahr war – sie war mit jemand anders zusammen.
    Plötzlich rutschte sie nervös hin und her.
    Sie sagte nichts mehr.
    Ich war so erschöpft, verängstigt, zerschlagen von der Zeit bei Cruz, von den langen schlaflosen Stunden im Reisebus und der Erwartung, Judit wiederzusehen, dass ich mich aufregte, es war das erste Mal, dass ich lauter wurde, ich brüllte irgendetwas von du könntest es mir sagen, wenn du nichts mehr von mir wissen willst, Scheiße, und ich hatte mich halb von meinem Stuhl erhoben – die Leute am Nebentisch (bürgerliches Paar, Sonnenbrille im Haar, kariertes Hemd, Pulli mit V-Ausschnitt über die Schultern gelegt) drehten sich nach uns um, ich schnauzte sie an, sie sollten sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, entrüstete Gesichter.
    Judit sah mir in die Augen, als wollte sie sagen, setz dich wieder, hör mit dieser Szene auf. Mir wurde klar, wie lächerlich ich war, ich setzte mich wieder.
    »Hör mal, das nützt niemandem, sich so aufzuregen.«
    Sie murmelte. Sie schämte sich. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, den Mut, der ihr fehlte.
    »Du hast einen anderen, ist es das?«
    Sie verneinte. Sie schüttelte den Kopf und wiederholte dabei immer wieder nein, aber nein.
    »Du bist zum Kotzen.«
    Ich hatte mein Krimivokabular gezückt, sie sollte auf die Bosheit reagieren. Das Wort war ihr offenbar unbekannt, denn sie wurde nicht wütend. Sie fügte einfach nur hinzu, ich habe im Augenblick keine Lust, mit jemandem zusammen zu sein, das ist alles – mir kam das vor wie eine grenzenlose Verarschung, eine Lüge, eine Gemeinheit.
    Ich sah auf den kleinen ovalen Platz. Gegenüber gab es, unter Bäumen, eine hübsche, hölzerne Toreinfahrt aus einem anderen Jahrhundert, ein schickes Restaurant; vor mir ein schönes Brunnenbecken in Form einer Vase mit vergoldeten Brunnenrohren; eine alte Dame kam vorbei, die einen Einkaufstrolley zog.
    Wir schwiegen uns eine Weile an, ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte, was ich sagen sollte.
    Sie hatte Gewissensbisse, mich so abzuservieren, ich spürte es.
    »Wo schläfst du?«
    »Was juckt dich das?«
    »Hündin« oder »Schlampe« hinzuzufügen war nicht nötig, der Satz klang auch so wie ein Hieb.
    »Reg dich nicht auf, das ist albern. Ich versuche nur, dir zu helfen.«
    Ich wusste nicht mehr, was ich wollte, es tat mir leid, dass ich sie gereizt hatte. Die Dame mit ihrem Wägelchen hatte den ganzen Platz überquert; aus ihrem Einkaufstrolley ragte ein Baguette heraus; das Paar mit den Sonnenbrillen neben uns verlangte die Rechnung.
    Sie wollte nur eines, von hier verschwinden, ich wusste es; wahrscheinlich quälten sie Schuldgefühle; ich sah mich selbst, meine schlecht rasierte Nordafrikaner-Fresse, meinen beschissenen kakifarbenen Parka, ziellos, haltlos, die Welt war nicht einmal mehr die Welt, sie war eine Fernsehkulisse, eine Fälschung. Ein paar Erinnerungen stiegen in mir hoch, Tanger, unser Viertel, Meryem und Bassam, ich fragte mich, was ich hier zu suchen hatte, auf diesem hübschen, niedlichen Platz gegenüber von Judit, die nichts mehr von mir wissen wollte, Gott allein weiß, warum.
    Ich begann Marokkanisch zu sprechen.
    Ich flehte sie an, redete sehr schnell, undeutlich; ich sprach von Liebe, von meiner Müdigkeit, von der Ibn Battuta , von Cruz, von der Finsternis in Algeciras, von unserer Woche in Tanger, von dem, was wir auf unserem Balkon in Tanger erlebt hatten, ich sagte ihr, sie könne das nicht mit einer Armbewegung vom Tisch fegen, sie würde mich töten.
    Sie schaute mich an, sah gequält aus. Ich war keineswegs sicher, ob sie verstanden hatte, was ich gerade erzählt hatte.
    Sie nahm meine Hand; sagte etwas beinahe Endgültiges von der Art »Ich fühle mich nicht stark genug«, was auf Arabisch dramatisch und theatralisch klang; ich kam mir vor wie in einer ägyptischen Fernsehserie.
    Ich war zu fertig, wie du

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