Straße der Diebe
täglich. Sie half mir bei allem; sie war sogar so weit gegangen, auf ihren Namen ein Konto bei einer Sparkasse zu eröffnen, damit ich meine Kohle dort einzahlen konnte – sie gab mir die Kontokarte und die PIN -Nummer, das war, angesichts der Lage meiner Wohnung, sehr viel sicherer als Bargeld. Sie selbst zahlte das Geld auf das Konto ein, sie fragte nicht, woher die Kohle kam, und ich erklärte es ihr nicht.
Judit war für mich die schönste und großherzigste aller Frauen, selbst wenn sie aus völlig unerfindlichen Gründen nichts mehr von mir wissen wollte. Sie sah sofort zu, dass ich Arbeit fand – als Arabischlehrer. Zweimal pro Woche gab ich Judit, Elena und Francesc, einem ihrer Kommilitonen, Privatunterricht für zehn Euro die Stunde. Ich war sehr stolz darauf. Ich erklärte ihnen die Feinheiten der Grammatik; ich kommentierte klassische Gedichte mit ihnen – häufig hatte ich mir am selben Vormittag mit einem Buch das angeeignet, was ich nachmittags erklärte; auf einmal las ich viel auf Arabisch, um die Stunden vorzubereiten, was angenehm war. Wir lernten Gedichte von Abu Nuwas auswendig, meiner Meinung nach der größte, der subversivste und witzigste arabische Dichter; ich erklärte fast Zeile für Zeile die großen Romane von Nagib Machfus oder Tayyib Salih, die ich vorher nie gelesen hatte, die aber auf ihrem Semesterplan standen.
Judith wohnte bei ihren Eltern auf den Anhöhen der Stadt, im Gràcia; es war ein eher bürgerlicher und gepflegter Stadtteil, ein ehemaliges Dorf, das im 19. Jahrhundert an Barcelona angeschlossen worden war, mit engen Straßen, angenehmen Plätzen; es gehörte zur Tradition dieses Viertels, dass die Kinder seiner Bürger eher rebellisch und alternativ waren: Es gab zahlreiche Bürgerinitiativen und sogar ein besetztes Haus mitten im Zentrum des Viertels – irgendwo musste Jugend ja stattfinden. Dort oben waren auch die Araber schicker, bürgerlicher; die meisten Restaurants waren syrisch, libanesisch oder palästinensisch; direkt neben Judits Elternhaus gab es auch eine mesopotamische und eine phönizische Küche – das war alles ein wenig einschüchternd, und eingeklemmt zwischen Katalanentum und Antike, zog ich es vor, mich in meine dunklen Gassen zu flüchten. Judit fühlte sich natürlich sehr wohl dort oben. Sie hatte dort ihre Freunde, ihre Schule, die Straßen, in denen sie aufgewachsen war; manchmal bestand sie nach dem Arabischunterricht darauf, mich zum Essen in eines dieser edlen und altertümlichen Restaurants mitzunehmen: Der Wirt des phönizischen Restaurants war keineswegs einem Sarkophag in Sidon entstiegen, er war ein Libanese aus dem Gebirge; er unterhielt sich eine Weile mit Judit über Politik, über Syrien hauptsächlich, den derzeitigen Bürgerkrieg, die undurchsichtige Rolle, die die Türkei, Saudi-Arabien und Katar dort spielen würden – das war alles in allem ein wenig deprimierend, ich hatte das Gefühl, dass man als Araber, was auch immer man machte, zu Gewalt und Unterdrückung verdammt war. Aber ich muss zugeben, dass dieser Phönizier ziemlich schlau und sehr sympathisch war, was meine Eifersucht steigerte – ich machte den Mund nicht auf, er musste glauben, dass ich ein Eigenbrötler oder zurückgeblieben sei.
Judit wurde von Tag zu Tag rätselhafter. Sie sah traurig aus, manchmal tieftraurig, geistesabwesend, ohne dass ich es mir erklären konnte; dann schäumte sie im Gegenteil wieder über vor Energie, lachte, erzählte mir von ihren Plänen, lud mich ein, auszugehen, eine Runde zu drehen oder draußen ein Glas zu trinken. Die ersten Tage nervte ich sie, damit sie mir endlich gestand, dass sie einen anderen hatte, sie blieb bei ihrem Nein, ich hörte auf zu insistieren, und nach einer Weile kannte ich ihren Stundenplan so gut, dass ich einsehen musste: Bis auf ein paar Kommilitonen von der Uni gab es in ihrem Leben niemanden außer mir.
Das machte die Sache nur noch unbegreiflicher.
Ich beschloss, ihr Zeit zu lassen, irgendwann würde sie zu mir zurückkehren. Wenn wir ausgingen, nahm ich manchmal ihre Hand; sie zog sie nicht zurück – ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es ihr gleichgültig war. Und als sich einmal die Gelegenheit dazu ergab, ein einziges Mal, haben wir sogar miteinander geschlafen: Ich hatte sie für den Nachmittag eingeladen, mein neues, sagenhaftes Zimmer anzusehen; sie ließ sich, ohne etwas entgegenzusetzen, küssen und entkleiden – ich sage bewusst ohne etwas entgegenzusetzen , sie ließ es
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