Straße der Diebe
Flasche ich auswählte, kostete sie mich zwischen einem Euro fünfzig und drei Euro. Da das mächtige Königreich Marokko alkoholische Getränke gnadenlos besteuerte, hatte ich mich dort immer mit Milchkaffee begnügen müssen; hier sorgte das schöne Spanien dafür, dass die Frucht der Reben für jeden Geldbeutel erschwinglich war.
Schließlich ging die Sonne fast genau vor mir unter, hinter der Kirche Sant Pau, ich hatte noch eine knappe halbe Stunde Tageslicht, bis es zu dunkel war, um auf dem Balkon zu lesen, und dann beobachtete ich noch eine Weile das Treiben auf der Straße; am Wochenende standen Dutzende von Leuten Schlange vor den Räumlichkeiten unserer Nachbarn, einer Sekte von Evangelisten oder Adventisten oder wer weiß welcher häretischen Minderheit – sie warben sehr erfolgreich bei den Bedürftigen, weil sie nach dem Gottesdienst Essen austeilten. Das erlaubt einem selbstverständlich nicht, an der Ernsthaftigkeit des Glaubens zu zweifeln, der diese Herden von Lumpen antrieb, und möglicherweise waren sie ja echte Protestanten. Auf jeden Fall bekam diese Kirche (eine ehemalige Metzgerei) ihren Saal immer voll – man hörte sie Lieder singen; dann sprachen sie von der Liebe, dem Herrgott und seinen Schafen, von Christus, der am Tag der Auferstehung zurückkehren und Gerechtigkeit bringen würde.
Es war ein seltsamer Gedanke, dass unsere Religionen im Grunde alle Erzählungen waren: Fabeln, die einige guthießen und andere nicht, ein riesiges Buch voller Geschichten, aus dem jeder nehmen konnte, was ihm passte – es gab eine Zusammenstellung namens Islam , die sich nicht ganz mit den Versionen deckte, die im Christentum enthalten waren, das sich wiederum von der Sammlung des Judentums unterschied; auch diese für die Armen singenden Protestanten hatten wahrscheinlich ihre eigene Version – ich hatte eines ihrer Evangelisierungsinstrumente mitgehen lassen, einen einfach gezeichneten, farbenfrohen Comic, ein Dutzend Seiten lang; alle Personen, die darin auftauchten, waren Schwarze, außer Christus, goldblond mit Heiligenschein, der einen Bart und langes Haar trug: Man sah darin einen Mann mit einem Hammer ein Holzhaus bauen, heiraten, eine Familie gründen; seine Kinder wurden um die Hütte herum groß; alle arbeiteten auf dem Feld. Dann wurde der Mann alt, sein Haar ergraute, schließlich starb er, und ein rundum strahlender Jesus begleitete ihn, umringt von Engeln, in den Himmel.
Die Nutten kamen heraus, sobald die Straßenlampen angingen. Sie stellten sich auf der Seite der Esplanade am Ende der Straße auf; die Tariq-ibn-Ziyad-Moschee dürfte die einzige Moschee der Welt sein, vor der Amazonen, schwarz wie die Nacht, im Harnisch ihrer Lamé-Miniröcke mit glänzenden Bustiers und hohen Absätzen ihre Freier unter den Gläubigen einfingen – die dem Treiben übrigens keinerlei Beachtung mehr schenkten. Es war Teil des Dekors, wie die Polizisten, die bei Einbruch der Nacht ebenfalls begannen, zu dritt oder zu viert um den Häuserblock auf Streife zu gehen, in einer Reihe und stolz, sehr stolz darauf, die ganze Stärke der Ordnungskraft und die Härte der Gesetze zu demonstrieren. In Wirklichkeit trugen sie auf diese Weise nur zur Beschleunigung der meisten illegalen Geschäfte bei: Sobald sie um die Ecke waren, wusste man so sicher, wie man es am Uhrzeiger oder am Sonnenstand ablesen kann, dass sie gut fünf Minuten brauchen würden, bis sie wieder vorbeikamen. Es gab Überwachungskameras, klar, aber ich habe nie jemanden auf der Straße sagen hören, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen müsse: Wie Gott uns allen zusieht, so konnte der Bürgermeister uns von seinem Schreibtisch an der Plaça Sant Jaume aus beobachten – niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, nicht die Säufer, die sich nahezu unter besagter Kamera mit Bier volllaufen ließen und dabei unsinniges Zeug brüllten, nicht die Haschisch-Dealer, die den lieben langen Tag am selben Platz ausharrten, nicht die Schwarzen, Besitzer eines ganzen Reitstalls voller Stuten, die etwas weiter unten für sie anschaffen gingen, nicht die Drogenabhängigen, die sich vor der geschlossenen Sozialstation anschrien, nicht die Pakistani, die später dazukamen, um Bier aus den illegalen Kühlschränken zu holen. Niemand schien sich im Geringsten an diesen weißen, überall in der Gasse sichtbar angebrachten Kameras zu stören. Sie waren der Preis des Ruhms.
Und dann, gegen elf Uhr nachts oder um Mitternacht, drehte ich eine Runde mit Mounir,
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