Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
Vom Netzwerk:
ins Wort.
    Der Sultan ließ ihn festnehmen und sperrte ihn vierzehn Tage ohne Speise und Trank ein; täglich führte man den Gefangenen in den Audienzraum, wo die Richter ihn aufforderten, seine Worte zu widerrufen.
    »Ich werde meine Worte nicht widerrufen. Ich habe das Zeug zu einem Märtyrer.«
    Am vierzehnten Tag ließ ihm der Sultan eine Mahlzeit bringen, doch der Scheich wies sie zurück:
    »Mein Heil ist schon nicht mehr von dieser Welt, nehmt diese Speise fort.«
    Als der Sultan dies hörte, befahl er, man möge dem Scheich vier Pfund Fäkalien einflößen; die ihn abgöttisch verehrenden Hindus machten sich an die Durchführung: Sie öffneten dem Scheich den Mund mit Zangen, mischten die Ausscheidungen mit Wasser und trichterten ihm die Mischung ein.
    Am nächsten Tag trug man ihn vor eine Versammlung von Notabeln und ausländischen Botschaftern, damit er widerrufe und zurückziehe, was er gesagt hatte – er weigerte sich einmal mehr und wurde geköpft.
    Möge Gott seiner Seele gnädig sein.
    Nachdem der Text zur Übung übersetzt war, diskutierten wir auf Hocharabisch über die Entschlossenheit des Scheichs und die Frage, ob man den Mächtigen nachgeben soll. Ich sagte, ich glaube nicht, dass das Opfer des Scheichs viel genützt hat. Es wäre bestimmt nützlicher gewesen, wenn er am Leben geblieben wäre, den Kampf weitergeführt hätte, bereit, seine Aussagen zu widerrufen. Judit war klüger als ich, vielleicht auch mutiger:
    »Ich bin der Meinung, dass sein Opfer von Nutzen war – Tyrannen müssen wissen, was sie sind. Die Entschlossenheit des Scheichs bis in den Tod hat dem Sultan gezeigt, dass es Ideen und Menschen gibt, die man nicht bezwingen kann. Und außerdem hätte Ibn Battuta diese Geschichte nicht erzählt, wenn der Scheich widerrufen hätte, und niemand hätte von dessen Kampf erfahren, sein Beispiel dagegen ist ein Gewinn für jeden.«
    Sie drückte sich gut aus, ihr Arabisch war flüssig, sie benutzte schöne Wendungen und machte keine Grammatikfehler.
    Wir begannen, uns über Politik zu unterhalten: Ich dachte an die Syrer, die täglich gefoltert und bombardiert wurden, und an den Mut, den sie benötigten, um ihren Kampf fortzuführen in dem langen Krieg gegen ihren Sultan, der auch genau wissen sollte, dass er ein Tyrann ist.
    Gegen dreizehn Uhr brach ich auf; ich hatte Judit vorgeschlagen, ein wenig mit mir herumzulaufen oder einen Kaffee trinken zu gehen; sie hatte mit einem hübschen Lächeln abgelehnt. Für den Nachmittag war sie mit ihren Kommilitonen zur Demo verabredet.
    Deshalb war ich frei wie der Wind, ich ging zur Plaça del Sol, setzte mich dort auf eine Bank und las einige Stunden einen Krimi von Vázquez Montalbán; sein Detektiv, Pepe Carvalho, war der desillusionierteste, eingebildetste und unsympathischste Kerl der Welt, die Handlung war todlangweilig, aber seine Leidenschaft für Essen, Sex und die Stadt machten seine Bücher letztlich vergnüglich. Alles in allem lernte ich einiges über Spanien, über Barcelona, neue Wörter und Ausdrücke, die immer nützlich waren. Als ich das Buch ausgelesen hatte, machte ich mich auf den Weg ins Stadtzentrum. Der Hubschrauber kreiste noch immer, jetzt ziemlich tief; der Wind trug mir den Geruch von Feuer zu, Rauchschwaden hingen in der Luft; in der Ferne schnitten Polizeisirenen durch die scheinbare Ruhe in den Gassen, und als ich an einer Straßenecke vor einem der größten Hotels von Barcelona in die Avinguda Diagonal einbog, stieß ich geradewegs auf Hunderte von Menschen mit Plakaten; am Obelisken schwenkten Dutzende von Demonstranten, die auf den Sockel geklettert waren, schwarze und rote Anarchistenfahnen; die Menge schien den gesamten Passeig de Gràcia zu besetzen. Das Schaufenster der Deutschen Bank war unter Hammerschlägen zerborsten; daneben machte sich gerade eine Gruppe junger Leute singend über die Caixa her und malte Graffiti mit rotem Farbspray – der Hubschrauber war jetzt ganz nahe über uns, wahrscheinlich beobachtete er die Aktivisten; weiter unten, Richtung Plaça de Catalunya, stiegen riesige Rauchsäulen gen Himmel, und man sah den Schein von Flammen – die Stadt brannte, beschallt von Lautsprechern, aus denen Slogans, Gesang, Musik aller Art, Sirenen brüllten, es war ein ohrenbetäubendes Spektakel, brutal, grell, mitreißend, sodass das Herz im Einklang mit Hunderttausenden bewegungslos dastehenden Zuschauern zu schlagen begann, die schon durch ihre bloße Anzahl am Weitergehen gehindert waren; je

Weitere Kostenlose Bücher