Straße der Diebe
näher ich über Nebenstraßen zum Zentrum von Barcelona vordrang, umso mehr Feuerherde brannten – mitten auf einer Prachtstraße verzehrte sich gerade eine Barrikade aus Mülleimern in letzter Glut und verbreitete einen infernalischen Gestank. An der Plaça Urquinaona war eine Straßenschlacht im Gange – zwischen Flammen und Rauch rückte ein wogender, kompakter Haufen junger Leute auf zwei Polizeiwannen vor, indem sie ihre Fahnenstangen, Bierflaschen und Abfälle auf sie schleuderten, und strömte in chaotischer Auflösung zurück, als sich die Fahrzeuge in Bewegung setzten, zwei dicke, marineblaue Insekten mit Metallgittern über den Augen, die unverzüglich ihre Besatzung mit Schutzhelmen und Gasmasken über der Nase ausspuckten: Einige hielten Gewehre in der Hand, sie begannen in die Menge zu schießen, zu den Feuerstößen spritzten Funken aus ihren Gewehrläufen – die jungen Leute wichen vor den Gummigeschossen und dem Tränengas zurück; ein paar wenige, die sich zum Schutz vor dem Gas einen Schal vors Gesicht gebunden hatten, setzten ihren Angriff fort – mehr als ihre Beschimpfungen hatten sie nicht mehr entgegenzusetzen.
Ich stand am Straßenrand, hatte mich mit anderen Fußgängern in eine Einbuchtung zwischen den Mauern geflüchtet. Vor uns versuchte ein Löschwagen den Brand in einer Starbucks-Filiale zu löschen, offenbar ein Symbol des amerikanischen Kapitalismus, dessen Scheiben zersplittert im Rahmen hingen wie ein merkwürdiger Vorhang aus zerbrochenem Glas. Ab und zu stürmte ein Polizist vor, legte sein Gewehr an und zielte ruhig wie ein Jäger oder ein Soldat, bevor er sich wieder bei seinen Kollegen einreihte, und man fragte sich, welche Wirkung diese Geschosse haben konnten, so außerordentlich heftig und einschüchternd waren die Schüsse.
Um in mein Viertel zu gelangen, musste ich die Straße überqueren – oder zurückgehen, Richtung Universität marschieren und von dort ins Raval vordringen, doch ich ahnte, dass auch die Plaça Universitat in Aufruhr war, wenn nicht gar in Flammen stand.
Der Aufruhr würde mit einer furchtbaren Tracht Prügel enden, es war zu spüren, wie die Gewalt und der Hass der Ordnungskräfte anschwollen: Sie schwangen ihre langen Knüppel, winkten und drohten mit ihren Gewehren, ihren Schilden – die jungen Leute vor ihnen zogen ihre Hosen herunter, um ihnen den Arsch zu zeigen, sie beschimpften die Polizisten als Scheißer und Hurensöhne; eine kleine Gruppe schraubte metallene Papierkörbe ab, als Wurfgeschosse, andere machten sich seltsamerweise an einem Baum zu schaffen, vielleicht wollten sie daraus eine riesige Lanze machen. Die Kräfte waren ungleich verteilt, der Zusammenstoß erinnerte mich an eine Konquistadorenschlacht mit Rüstung und Arkebusen gegen einen Haufen von Maya- oder Aztekenzivilisten, wie ich es auf einem Stich in einem Geschichtsbuch gesehen hatte. Die Eroberung schritt voran.
Just als ich mich entschieden hatte, hinter den Ordnungskräften die Straße zu überqueren, gingen diese zum Angriff über. Fünfzehn Bullen stürmten voran, den Knüppel in der Hand; vier andere deckten die Flanken und kamen auf uns zu, verwiesen uns ohne Umstände des Platzes, ein ziemlich respektabler Herr von fünfzig Jahren maulte, er wohne auf der anderen Straßenseite; das maskierte Auge des Gesetzes brüllte: Räumen Sie die Straße! Räumen Sie die Straße!, und ließ den Knüppel mit einem heftigen Schlag auf dem Rücken des Herrn niedersausen, der endlich, empört, mit Tränen der Wut in den Augen, die Beine unter die Arme nahm – gezwungenermaßen wichen wir Richtung Norden zurück, das heißt meiner Zielrichtung genau entgegengesetzt. Gewalt und Hass; ich spürte Wut in mir hochsteigen, Wut und Angst; ich versuchte Judit auf ihrem Handy anzurufen, wollte wissen, wo sie war – kein Empfang. Die Polizei hatte wahrscheinlich die Netze gekappt, damit sich die Demonstranten untereinander nicht per SMS abstimmen konnten.
Die Stadt schwankte zwischen Erhebung und Volksfest – die Gran Via war noch schwarz von Menschen, ich begegnete einer alten Dame, die ein Schild trug: »Wer Not sät, wird Wut ernten«, einem kleinen Mädchen, das an der Leine seines Luftballons zog, auf dem »Schluss mit den Etatkürzungen« stand, Studenten, die in den stinkenden Schwaden von verbranntem Müll und Tränengas Rajoy, chulo, te damos por culo , Rajoy, du Großmaul, dir stopfen wir’s, und andere Scherze derselben Art sangen – zu meiner Verwunderung hatte
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