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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Welt existierte nur in Europa.
    Am nächsten Morgen wurde ich von einem lauten Brummen geweckt. Ein Hubschrauber kreiste über dem Zentrum von Barcelona – wir sollten ihn vierundzwanzig Stunden lang hören. Wir waren spät ins Bett gegangen mit unseren Biertischgesprächen, den Mädchen und dem Fußball, wir hatten sogar noch einen dicken Joint zusammen geraucht, bevor wir uns schlafen legten, und so war mir der Generalstreik völlig entfallen. Eine eigenartige Sache übrigens, so ein Generalstreik, geplant und durchgeführt für ein genau festgelegtes Datum und nur für die Dauer von vierundzwanzig Stunden. Wenn Arbeitsniederlegungen Sinn haben, dachte ich von der Höhe meiner zwanzig Jahre, dann liegt das an ihrer Dauer, an der Drohung, den Streik fortzusetzen. Nicht so in Spanien. Hier kämpften die Gewerkschaften einzig und allein einen Tag lang gegen die Macht, und dann zählten sie die Teilnehmer: Für die Gewerkschaftsführer ist Erfolg oder Fehlschlag eines Streiks keineswegs davon abhängig, ob die Streikenden irgendetwas erreichen oder ihre Forderungen durchsetzen, sondern nur davon, welchen Prozentsatz die Streikbeteiligung erreicht. Der Streik war also ein gewaltiger Erfolg für die Funktionäre der Gewerkschaften (achtzig Prozent Streikbeteiligung, mehrere Hunderttausend Demonstranten), aber auch für die Regierung: Sie musste kein Jota von ihrer Politik abweichen und bot nicht einmal Verhandlungen über irgendeine der Forderungen an. Ich weiß übrigens nicht, ob so etwas überhaupt vorgesehen war. Das Prinzip des Streiks bestand darin, dass niemand zur Arbeit ging, dass alle demonstrierten, und sonst nichts. Man sah deutlich, dass Spanien über der Politik stand, in einer Welt danach, in der die Machthaber niemanden mehr mit Samthandschuhen anfassten, verkündeten sie doch gerade den Wetterbericht, wie der französische König zur Zeit Casanovas: Freunde, die Kassen sind leer, heute werden es die Beamten ausbaden. Sie haben jahrelang zu gut gelebt, ihr Stündlein hat geschlagen. Morgen widriges Wetter für die Gesundheit. Sturm in der Schule. Melden Sie Ihre Kinder in Privatschulen an. Die letzten Beschäftigten der Schwerindustrie, die nicht an Krebs gestorben sind, werden entlassen. Wir haben den Arbeitsmarkt flexibilisiert, die Tarifvereinbarungen reformiert. Die Probezeit wird auf ein Jahr verlängert: Wenn Sie nach Ablauf von dreihundertvierundsechzig Tagen vor die Tür gesetzt werden, haben Sie kein Anrecht auf eine Abfindung. Die fortschrittsfeindliche Idee eines Mindestlohns ist zutiefst links und bindet den Unternehmen die Hände, die gerne Arbeitsplätze schaffen würden, der Mindestlohn gehört abgeschafft. Der unterste ist bereits auf dem Niveau von Marokko, das ihn gerade angehoben hat: Das ist zu viel, um wirklich konkurrenzfähig zu sein. Um uns gegen die Konkurrenz zu behaupten, brauchen wir Sklaven, katholische Sklaven, die mit ihrem Los zufrieden sind. Unzufriedene sollten nicht wählen dürfen. Die Unzufriedenen sind eine gefährliche Alternative und als solche nicht demokratiefähig, sie verdienen nichts anderes, als zusammengeknüppelt und in Massen verhaftet zu werden. Die spanische Bischofskonferenz empfiehlt den Katholiken, sich nur sparsam fortzupflanzen, eine hohe Geburtenrate in Zeiten der Krise würde die Staatsausgaben unangemessen belasten: Seine Heiligkeit Papst Benedikt rät zu einer ganzen Reihe von ökumenischen Maßnahmen wie der Messe und der Flagellation, das soll bei übermäßiger Begierde Abhilfe schaffen.
    Das alles stand in den Zeitungen, wurde im Fernsehen gesendet; einmal habe ich sogar eine Reportage gesehen, in der man behauptete, »Negerhände, die sich nicht durch die Qualität ihrer Maniküre hervortun , sollten kein Kondom herunterrollen, da es gefährlich ist, sie laufen sonst Gefahr, es kaputt zu machen; aus diesem Grund hat der Papst den Schwarzen den Gebrauch von Präservativen untersagt.« Außerdem »können sie nicht lesen«, fügte der Kommentator hinzu, »und deshalb verstehen auch nur wenige die Gebrauchsanleitung, was erklärt, dass es mehr Aids-Erkrankungen in Gegenden gibt, in denen Präservative ausgeteilt werden, als dort, wo es keine gibt«.
    Eine echte Sauerei. Wenn man solches Zeug hörte, dann drohte kein Streik, sondern die Revolution. Die Medien hier schienen ein Reich des Hasses, der Unwahrheit und der Unehrlichkeit zu fabrizieren. Die Spanier hätten ihren Arabischen Frühling machen sollen, hätten mit einer Selbstverbrennung

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