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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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anfangen sollen, dann wäre vielleicht alles anders gelaufen.
    Eine Sache begriff ich nicht: Gab Europa denn zu, dass es nicht die Mittel für seine Entwicklung besaß, es nur ein Lockvogel war und Spanien eigentlich ein afrikanisches Land war wie die anderen, dass alles, was wir sahen, Autobahnen, Brücken, Hochhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, nur ein Trugbild war, auf Kredit zusammengekauft, das nun drohte, von seinen Gläubigern übernommen zu werden? Würde jetzt alles verschwinden, verbrennen, von den Märkten, der Korruption und den Demonstranten geschluckt werden? Wenn das der Fall sein sollte, würden viele in der Straße der Diebe landen; viele würden tiefer sinken, ihr Leben ändern müssen, jung sterben, weil ihnen das Geld für die Gesundheit fehlte, ihre Ersparnisse verlieren; ihre Kinder würden einen Arschtritt erben, sie würden keine hübschen Schulen mehr besuchen, sondern Schuppen, in denen man sich um einen Holzofen drängt – niemand sah das. Man musste von weit her kommen, aus Marokko, von Cheikh Nouredine, von Cruz und seinen Leichen, um eine Vorstellung davon zu haben, wohin dieser Wandel führen würde.
    Der Hubschraubereinsatz hatte seine Berechtigung, vom Himmel aus muss alles viel schöner ausgesehen haben, zumal er an dem Tag wolkenlos war. Auf der Straße sah es anders aus. Ich hatte meine Privatstunde nicht abgesagt: Ich war ein Streikbrecher. Ich musste zu Fuß gehen, konnte keine U-Bahn nehmen. Es war zehn Uhr morgens, und schon gab es Versammlungen, Gruppen mit Typen, die Helme, Fahnen, Flüstertüten trugen, und überall Bullen. Die Hälfte aller Straßen in der Stadt war besetzt. Die großen Geschäfte hatten geschlossen, nur ein paar kleine Händler trotzten den Streikposten – und taten schlecht daran: Ich sah einen Bäcker, dessen Geschäft von einem Dutzend unzufriedener, »Streik, Streik!« brüllender Gewerkschafter blockiert wurde, die drohten, sie würden ihm die Scheibe mit der Hacke zertrümmern, wenn er nicht binnen zwei Minuten kapitulierte und seinen Angestellten freigab. Den Chinesen in den Basaren der Ronda das Konzept der Streikposten zu erklären war dagegen viel komplizierter:
    »Heute wird nicht gearbeitet.«
    »Es wird nicht gearbeitet?«
    »Nein, es ist Generalstreik.«
    »Wir streiken nicht.«
    »Doch, es ist Generalstreik.«
    »Wir streiken nicht.«
    »Genau, deshalb müssen Sie schließen.«
    »Wir müssen streiken?«
    Aber letztendlich schafften es auch die Chinesen, die noch die proletarischen Kämpfe der Einheitspartei kannten, einen guten Knüppel zu erkennen, wenn sie einen sahen, und ließen zumindest für einige Stunden ihre Rollläden herunter.
    Ihre Arbeit wurde noch ein bisschen heimlicher, als sie es ohnehin schon war.
    Im Gràcia schien alles ruhig zu sein. Die Straßen badeten im blauen Licht des frischen Frühlingsmorgens; Judit erwartete mich zum Unterricht, ich kam ein wenig außer Atem bei ihr an. Elena und Francesc fehlten heute, sie wohnten zu weit weg, um zu Fuß zu kommen. Judits Mutter war da, ich begegnete ihr zum ersten Mal; »Lakhdar, mein Arabischlehrer«, wurde ich vorgestellt. Sie sah viel jünger aus, als ich sie mir vorgestellt hatte; sie trug eine enge Jeans, ein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck I’d prefer not to und hieß Núria. Ich dachte an meine Mutter, beide dürften etwa dasselbe Alter gehabt haben – nicht dasselbe Leben, auch das sah man auf Anhieb.
    Der Einzelunterricht lief gut, auch wenn Judit mit ihren Gedanken ein wenig abwesend war. Wir lasen einen Abschnitt von Ibn Battuta, der mir gut zu den Tagesereignissen zu passen schien. Ibn Battuta befindet sich in Indien bei Sultan Muhammad Shah, und er erzählt, dass ein sehr mächtiger und hochgeachteter Scheich namens Chihab-ud-din sich weigerte, vor dem Sultan zu erscheinen, der ihn zu sich gerufen hatte; der Scheich erklärt dem Gesandten des Hofs, »er würde niemals einem Tyrannen dienen«. Daraufhin ließ der Sultan ihn mit Gewalt vorführen:
    »Du sagst, ich sei ein Tyrann?«
    »Ja«, erwiderte der Scheich, »Ihr seid ein Tyrann. Und zu Euren tyrannischen Maßnahmen zähle ich dies und jenes.« Und er begann einige aufzulisten, wie die Zerstörung der Stadt Delhi und die Vertreibung ihrer Bewohner.
    Der Sultan bot seinem Wesir sein Schwert an mit den Worten:
    »Wenn ich ein Tyrann bin, schlag mir den Kopf ab!«
    »Wer Euch als Tyrannen bezeichnet, ist ein toter Mann, aber Ihr selbst wisst genau, dass Ihr einer seid«, fiel der Scheich ihm

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