Strasse der Sterne
Nicken.
»Wenn du liebst, bist du nicht mehr frei. Und man kann dich leichter verletzen. Also sieh dich vor! Sei mutig und gleichzeitig wachsam. So kannst du dich am besten schützen.«
Die Frau verstand kein Wort. Estrella erkannte es an ihrem stumpfen Blick. Obwohl sie halb so alt wie sie war, hätte sie ihr eine Menge darüber erzählen können, aber für das abgescheuerte Silberstück, das sie ihr zugesteckt hatte, war es schon mehr als genug. Außerdem gab es andere, die ungeduldig darauf warteten, etwas über ihr eigenes Schicksal zu erfahren. Erfreulicherweise war die Reihe der Wartenden noch lang.
»Ich könnte dir ein interessantes Geschäft anbieten«, sagte Pablo später, als die Schänke sich um Mitternacht endlich geleert hatte. »Warum lässt du dich nicht in Calahorra nieder? In meinem Haus ist Platz genug. Schlafen und Essen sind umsonst. Und ich beteilige dich am Umsatz. Sagen wir, zehn, nein, ich will nicht kleinlich sein: zwanzig Prozent? Wenn die Dinge sich weiterhin so gut entwickeln, kannst du dir leisten, was immer du willst: Schmuck, schöne Kleider, alles, was dein Herz begehrt!«
»Läuft deutlich besser als früher, als deine ärmlichen Flussschiffer ab und an auf ein Glas Roten hereingeschaut haben, nicht wahr?« Estrella streckte sich. Der Rücken schmerzte vom langen Sitzen, aber der Beutel an ihrem Gürtel war schwer und prall. Ein guter Abend, der erfolgreichste bislang, wenn sie richtig mitgezählt hatte.
»Die Leute kommen aus der ganzen Stadt«, sagte Pablo. »Sogar aus den feinsten Bürgerhäusern. Tische und Bänke reichen nicht mehr aus. Aber es wäre ein Leichtes, neue machen zu lassen. Und bei schönem Wetter lässt es sich auch ins Freie ausweichen. Wenn du wolltest, könnten wir beide reich werden.«
Jetzt stand sie ganz nah vor ihm.
»Warum wollt ihr mich alle immer festbinden? Einer wie der andere! Merk dir eins: Ich bleibe nicht in deinem muffigen Calahorra. Estrella kann keiner halten.«
»Estrella! Du, du ... bist ein leuchtender Stern.« Pablo legte sich richtig ins Zeug. Seine schiefe Nase zitterte, so viel Mühe gab er sich. »Ich werde dich nicht anrühren, wenn du nicht willst, das versprech ich dir. Aber vielleicht wirst du eines Tages ...«
»Natürlich wirst du das nicht!« Ihre Augen blitzten. »Das ist schon anderen vor dir schlecht bekommen. Aber gib dir keine Mühe. Denn ich ziehe weiter. Und zwar dann, wenn ich es für richtig halte. Also, genieß die Zeit, Pablito. Und zähl brav deine Münzen. Denn bald ist es vorbei.«
Später, allein in der kleinen Kammer über der Wirtsstube, lag sie lange wach. Vorsichtshalber hatte sie die Truhe vor die Tür geschoben, falls Pablo, der wieder einmal tief ins Glas geschaut hatte, doch noch auf dumme Gedanken kommen sollte.
Estrella. Sie hatte den neuen Namen mit Bedacht ausgewählt, um alles Gewesene abzustreifen. Aber seitdem sie immer weiter nach Norden kam, gelang es ihr immer schlechter. Die Vergangenheit streckte ihre klebrigen Finger nach ihr aus. Zu vieles begann sie an ihr früheres Zuhause zu erinnern: das Licht, der Himmel, die Bäume, der harte Dialekt, den die Leute hier sprachen. Nicht einmal der grüne Stein half ihr jetzt noch. Sobald sie ihn herausholte, wurde es nur schlimmer.
Ihr war heiß. Stroh klebte an ihrer Haut.
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, das so dicht und rötlich war wie das ihres Vaters. El Aleman, so hatten ihn alle im Ghetto genannt. Keiner, der ihn nicht achtete und respektierte. Mehr als ein Leben hatte er durch seine Kunst schon gerettet. Sie war so stolz gewesen, seine Tochter zu sein.
Bis zu jenem Abend, den sie niemals vergessen würde.
Hätte sie nicht so viel von dem fetten Schmalzgebackenen gegessen, sie wäre vermutlich nicht aufgewacht. Und selbst, als sie schon wach war, weshalb hatte sie sich die Ohren nicht rechtzeitig mit Wachs verstopft?
»Wir müssen sie verheiraten.« Die gedämpfte Stimme ihrer Mutter. »Sonst passiert noch etwas. Alle Männer im Ghetto schauen ihr hinterher. Das ist nicht einfach für ein junges Mädchen.«
»Ich habe schon mit José geredet. Er klang angetan. Wenn wir wollen, könnte bald Verlobung sein.«
»Aber sie liebt nicht José, sondern Ari. Hast du nicht gesehen, wie sie ihn anhimmelt?«
»Ari? Der nimmt im Sommer Rachel zur Frau. Die Tochter des Rabbi. Das ist längst zwischen den Vätern beschlossen.«
»Und für unsere einzige Tochter den Schächter? Willst du unser einziges Kind an den Nächstbesten
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