Strasse der Sterne
weiter anzuziehen?«
Ein Kopfschütteln. Aber sie schien ihn verstanden zu haben.
»Die Kirschen«, murmelte sie. »Seit Tagen nichts anderes. Es waren zu viele ... und dann all die Kerne ...« Der nächste Schwall. »Ich hätte kein Wasser dazu trinken sollen. Aber ich war so unendlich durstig ...«
»Was ist geschehen? Hat man dich überfallen?«
»Nein. Im Schlaf hat er mir alles gestohlen, Tasche, Umhang, Stock, Geld, Sogar die unbequemen Schuhe.« Jetzt erst fiel ihm auf, dass sie barfuß war. »Nur Eisenfesseln hat er mir zum Andenken gelassen. Damit ich niemals frei werde. Nobel, findest du nicht?«
Sie zitterte. Und redete offensichtlich wirres Zeug. Ihr Zustand schien ernster sein, als er vermutet hatte. Ohne zu zögern, öffnete Camino seine Tasche, zog den Templerum- hang heraus und hüllte sie darin ein. Sie war so klein, dass sie in seinen Falten beinahe verschwand.
»Danke«, flüsterte sie, während ihre Zähne weiterhin aufeinander schlugen. »Das tut gut.«
»Wer bist du?«
Sie hatte ein sommersprossiges Fuchsgesicht und grüne Augen. Als sie ihn ansah, löste sich etwas Hartes in seiner Brust.
»Eine Pilgerin«, sagte sie leise. »Auf dem Weg nach Santiago.«
»Das sind wir auch«, sagte er. »Meine Gefährten und ich.«
Ihr Blick wurde unruhig, suchend. Aber ihr haltloses Zittern war inzwischen verebbt.
»Sie warten außerhalb des Ortes«, sagte er. »Ich bin lediglich vorausgegangen, um nach dem Weg zu fragen. Willst du nicht ein Stück mit uns ziehen?«
»Aber ich habe doch nichts, was ich mit euch teilen könnte! Ich müsste euch auf der Tasche liegen - zumindest, bis ich unterwegs eine Arbeit finde.« Wieder diese Augen, die bis in sein Innerstes zu dringen schienen. »Wer bist du?«
»Camino. Und du? Woher kommst du? »
»Ich bin Moira. Aus Trier. Es war ein weiter Weg.«
*
Es wurde still, als Estrella die erste Karte aufdeckte.
»Der Stern«, sagte sie langsam und genoss jedes Wort. »Die Wasser des Lebens. Dir werden die Augen geöffnet werden.«
Die Frau gegenüber starrte sie mit offenem Mund an, und auch die anderen, die sich um sie geschart hatten, warteten sichtlich gespannt. Täglich wurden es mehr, die Abend für Abend in Pablos Schänke kamen, ein niedriger Holzbau, direkt am Flussufer gelegen.
Estrella zögerte mit der zweiten Karte, gerade lang genug, um die Stimmung weiter anzuheizen.
»Die Liebenden.«
Das Gesicht der Frau übergoss sich mit flammendem Rot. Sie war weder jung noch schön, aber in ihren Augen hatte Estrella eine Sehnsucht gelesen, die nun neue Nahrung erhielt.
»Was bedeutet das?«, fragte die Frau begierig.
»Du wirst dich verlieben und eine wichtige Entscheidung treffen. Möglich auch, dass jemand dich liebt.« Estrellas Blick wurde streng. »Oder gibt es diesen Jemand etwa schon in deiner Nähe? Möglicherweise ein heimlicher Verehrer?«
Die Frau murmelte etwas. Verhaltenes Gelächter der anderen.
»Wenn ihr nicht still seid, kann ich nicht weitermachen.« Sie musste ihre Stimme nicht einmal erheben; Gelächter und Murmeln verstummten sofort. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Das waren die Augenblicke, die sie liebte - das Gefühl, Herrin des Schicksals zu sein, die gute Gaben wie aus einem Füllhorn gießen konnte.
»Bald?«, fragte die Frau. »Ich meine das mit der Liebe ... wird es lange dauern?«
»Darüber verraten die Karten nichts. Wie könnten sie auch? Wo doch du allein die Meisterin deines Lebens bist.«
Estrella beugte sich leicht nach vorn. Sie hatte ihr Mieder nur lose zugeschnürt und war sich des reizvollen Anblicks bewusst, den sie ihrem Publikum bot: die helle Haut, das rotblonde Haar, das in weichen Wellen über ihren Busen fiel, das grüne Kleid, das dazu so schmeichelhaft kontrastierte. »Aber ich rate dir, nicht zu lange zu warten. Sei mutig! Wovor hast du Angst? Schließlich geht es um dein Glück!«
»Vielleicht sagt die dritte Karte ja noch etwas mehr«, sagte die Frau. Ihre Zunge erschien zwischen den halb geöffneten Lippen. Sie zappelte bereits am Haken. Jetzt könnte sie ihr die Brust aufreißen und sie langsam ausweiden.
»Sieh an! Der Teufel!«
Ein Raunen ging durch den Raum, als Estrella die Karte aufdeckte. Einige wichen erschrocken zurück. Andere klammerten sich an ihre Bänke.
»Heißt das, dass der Leibhaftige mich holen wird?« Die Frau war in Furcht erstarrt.
»Nein. Es sagt dir, dass Liebe auch immer Abhängigkeit bedeutet und dir Fesseln anlegt. Du verstehst, was ich meine?«
Ein vages
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