Strasse der Sterne
Es ließ sie vor ihm zurückweichen, und das Letzte, was sie wollte, war, ihn zu berühren. Wie kam er dazu, dies von ihr zu fordern, so aggressiv, dass es ihr Angst machte und sie nach Tariq rief? Auch ohne ihre Hände zu bemühen, wusste sie, wie verletzt und krank er war.
»Als Reine ist sie gestorben! Ich kann es nicht glauben! Und das, nachdem sie uns skrupellos den Schwarzkutten ans Messer geliefert hat. Soll ich dir den eisernen Mörser näher beschreiben, mit dem sie meine Hand gebrochen haben?« Solange Pilar lebte, würde sie diese Stimme nicht mehr vergessen. »>Fragstatt< nennen sie ihre Schreckenskammer. Weißt du auch, weshalb, kleine Nichte?«
Abermals sein dumpfes Lachen, das sie frösteln machte.
»Weil dort unweigerlich jede Frage sehr schnell eine Antwort findet! Aber ich habe geschwiegen. Hartnäckig. Tagelang. Und deshalb haben sie auch begonnen, ihre Instrumente einzusetzen ...«
Sein Jaulen klang wie das eines Wolfes. Dann fuhr er fort, ruhiger, fast gleichmütig: »Mein Glück war, dass Roger, den sie nebenan traktierten, weniger schweigsam war. Sie ließen von mir ab, um sich ganz auf ihn zu konzentrieren. Später schickten sie mir sogar einen ihrer Schlächter, der mir die Gnade erwies, den Arm abzutrennen, als meine zerquetschten Finger zu faulen anfingen ... Und ich hatte Glück er war ein Meister seines Fachs und arbeitete sauber.«
Pilar presste sich die Hände auf die Ohren. Sie wollte ihn nicht mehr hören und wusste doch, dass jedes seiner Worte für immer in ihr eingebrannt war.
Tariq beobachtete sie voller Besorgnis.
Als Diego sich plötzlich wie ein Rasender auf sie gestürzt hatte, konnte er sie im letzten Moment vor seinem Zugriff retten. Zum Glück war wenigstens das ihm gelungen. Denn er war es schließlich gewesen, der sie zu jenem Scheusal geführt hatte. Ratlosigkeit überfiel ihn. Mit allem, was er tat, schien er das Gegenteil von dem zu erreichen, was er wollte.
Jetzt, als die Brücke von Hospital de Órbigo in Sicht kam, drückte er das Halfter Armando in die Hand und nahm Moira zur Seite. »Ich muss dich um etwas bitten«, sagte er. »Ich hoffe, du wirst es mir nicht abschlagen.«
»Sorgst du dich um Pilar? Sie ist sehr verändert, seitdem wir in León waren.«
»Jahrelang schon trage ich es mit mir herum. Aber jetzt ist die Last so schwer geworden, dass sie mich zu erdrücken droht«, sagte Tariq. »Es geht um das Vermächtnis der Herrin. Sie hat mir ihre Aufzeichnungen für die Tochter übergeben, als sie Regensburg verlassen hat. Zuerst war die niña noch zu klein und später ...«
»... wurde sie blind«, fuhr Moira fort. »Inzwischen aber ist sie alt genug, um zu verstehen. Weshalb hast du Pilar das Vermächtnis nicht längst vorgelesen?« »Weil ich ein Diener bin. Und ein Mann. Und weil mir dazu ...«
»... der Mut fehlte?«
Überrascht starrte er sie an, dann nickte er.
»Du bist eine kluge Frau«, sagte er. »Ich wusste, dass ich mich richtig entschieden habe.«
Sie blieb lange stumm.
»Wieso sagst du nichts?« Ein schrecklicher Gedanke ließ ihn innehalten. »Oder kannst du nicht lesen?«
»Meine Mutter hat es mir beigebracht, als ich ein kleines Mädchen war«, sagte Moira. »Und später dann, als sie groß genug war, hab ich es meiner Tochter ...« Sie brach ab.
Tariq entging ihre Traurigkeit nicht. Beide schwiegen, bis sie bei den ersten Häusern angelangt waren.
»Das dort drüben muss das Hospiz sein.« Camino deutete auf ein unscheinbares Gebäude hinter einer niedrigen Steinmauer. Den ganzen Tag über hatten sie immer wieder Pilger aus den verschiedensten Ländern überholt. »Es wird sicher voll. Wir sollten keine Zeit verlieren.«
»Es hat ja sogar einen Garten«, sagte Estrella, die bislang ungewöhnlich stumm geblieben war. »Geht es euch auch so? Mein Hals fühlt sich an, als hätte ich Staub getrunken.«
Tariq versorgte das Pferd, während Camino die Plätze belegte. Pilar wartete auf den Stufen und hielt ihr Gesicht in die Abendsonne.
»Manchmal sieht sie aus wie ihre Mutter«, sagte Tariq halblaut, als er zurückkam. »Dann beginnt es in meinem Herzen so zu rumoren, dass ich fürchte, es könne in Stücke zerfallen.«
»Welch ein Glück für deine niña, dass sie dich an ihrer Seite hatte.« Moira strich sich das Haar aus der Stirn. »Und ich ... ich habe sie auch ins Herz geschlossen. Wann fangen wir an?«
*
An diesem Abend schien Estrella es nicht eilig zu haben, in die Schenken aufzubrechen, um Pilgern die Zukunft zu
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