Strasse der Sterne
nah war. Ich schaute mich um. Aber Diego stand hinter mir. Flucht war unmöglich.
»Es gibt nur eines, womit du halbwegs gut machen kannst, was du mir angetan hast«, sagte er, leidend und lauernd zugleich.
»Was meinst du?« Mein Unbehagen verstärkte sich, obwohl ich nicht wusste, was er vorhatte.
»Du hast unsere Taufe besudelt. Nun will ich dein Blut.«
»Mein Blut?« Erschrocken fuhr ich zurück.
»Ich habe ein Recht darauf. Du bist es mir schuldig.«
»Diego, ich erwarte ein Kind und kann ...«
»Nicht!« Er presste die Hände an die Ohren und wand sich wie in großen Schmerzen. »Sprich es nicht aus! Der Teufel wohnt in deinem Leib. Du hast Hurerei begangen, anstatt dich für den Einzigen aufzusparen, der deiner würdig gewesen wäre ...«
Sein Mund zuckte, als er näher kam. Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Und begriff. Die Erkenntnis kam so plötzlich und war so furchtbar, dass mir die Knie weich wurden.
»Du versündigst dich«, flüsterte ich, so ruhig ich konnte. Meine Hände tasteten nach etwas, womit ich mich wehren konnte. »Du bist mein Bruder. Ich bin deine Schwester, und nur als solche kann ich dich lieben...«
Er umklammerte meine linke Hand.
»Meine süße kleine Blanca. Immer habe ich darauf gewartet«, murmelte er. »Dass du es endlich erkennst. Ich liebe dich, Blanca. Das Blut verbindet uns von Geburt an. Aber das ist nicht genug. Wir müssen unser Blut für immer vermischen, in einer heiligen Wandlung.«
Meine zitternde Rechte fand die kühle Klinge des Dolches. Sein Griff war aus feinstem Elfenbein. Aber es war nicht die Zeit, sich an seiner Glätte zu erfreuen.
»Du bist aufgewühlt«, sagte ich. »Ich bin sehr müde. Lass uns morgen ...«
Beobachteten uns blanke blaue Augen durch eine Türritze? Der perfide kleine Engel, mein verhasster Schatten?
»Nein!« Er schrie wie unter Schmerzen. »Heute wirst du mich nicht abweisen. Heute bekomme ich von dir, was ich schon so lange begehre: Zuerst dein Blut, Blanca. Und dann deinen Schoß ...«
Er presste mich an sich. Ich roch seinen weintrunkenen Atem und den gebratenen Knoblauch, in dem das Schwein geschwommen hatte. Ekel stieg in mir hoch und unsägliche Angst. Sein Druck wurde immer stärker. Ich fürchtete um mein Kind.
»Küss mich!«, forderte er heiser. »Küss mich endlich.«
Sein Mund war hart und viel zu feucht. Ich spürte, wie seine Zunge gewaltsam die Barriere meiner Lippen sprengen wollte, und in diesem Moment holte ich aus und stieß zu.
Hostal de Orbigo, Juli 1246
»Diegoblanca. Blancadiego ...«
Der Singsang ließ Pilar nicht mehr los. Mehr denn je wünschte sie sich, zu sehen und damit wie die anderen laufen zu können. Dann würde sie irgendwann erschöpft ins Bett fallen und einschlafen und die Stimmen endlich nicht mehr hören. Wallis gemächlicher Trott jedoch trieb die hässlichen Worte in einem immer wiederkehrenden Rhythmus durch ihr Inneres.
»Blancadiego. Diegoblanca.« Das freudlose Lachen Diegos. »Ja, betrachte mich nur in aller Ruhe!«, hatte er gesagt. »Einst galt ich als stattlicher Mann, doch was bin ich heute? Ein Scheusal, vor dem die Kinder davonlaufen und jeder Christenmensch sich schaudernd abwendet! Und wem habe ich das zu verdanken? Deiner schönen, frommen Mutter. Aber ich kenne auch ihr anderes Gesicht, die Teufelsfratze. Ich weiß, wer meine Schwester Blanca in Wirklichkeit ist. Soll ich dir sagen, was sie getan hat? Sie hat uns verraten, um ihre eigene Haut zu retten. Roger, mein Freund, ist tot, und ich wünschte, ich wäre es auch.«
Ihre Mutter - eine Verräterin?
Alles in Pilar sträubte sich dagegen. Dann jedoch tauchten Erinnerungen aus ihrer Kindheit wieder auf: Renas häufiges Abschweifen, als sei sie mit ihren Gedanken anderswo, die plötzliche Kühle, die sie oftmals in ihrer Gegenwart gespürt hatte, all die Geheimnisse und das viele, das sie niemals ansprechen durfte ...
Wer war diese Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte?
Niemand konnte sie besser kennen als der eigene Bruder. Aber konnte sie ihm glauben? Das Bild, das Diego von seiner Schwester entworfen hatte, jagte Pilar Furcht und Schrecken ein.
Und dass sie blind war, schien seinen Zorn zu steigern. Noch schlimmer wurde es, als sie Diego berichtete, wo und auf welche Weise ihre Mutter den Tod gefunden hatte. Pilar kam es vor, als habe er seinen Hass all die Jahre wie eine Kapsel tief in sich verborgen, um nun endlich zuzulassen, dass sie aufbrach und ihr Gift überallhin versprühte.
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