Strasse der Sterne
scheint irgendwie auch mit drinzustecken. Außerdem kann mich keiner von ihnen ausstehen«, sagte sie heftig. »Weder er noch Moira. Und deine eifersüchtige kleine Blinde schon gar nicht. Sie hält sich für etwas Besseres. Dabei könnte ich ihr eine Menge beibringen. Ich bin in manchen Dingen ziemlich bewandert, wenn du dich vielleicht erinnerst.«
»Lass Pilar aus dem Spiel!«, wehrte er sich. »Und was jene unselige Nacht betrifft: Warum musst du immer wieder davon anfangen?«
»Weil es mir gefallen hat. Und dir auch, das weiß ich genau, selbst wenn du jetzt den Heiligen spielst. Was hab ich dir eigentlich getan, Armando?«
»Es hat keinen Sinn. Du würdest es doch nicht verstehen«, sagte er leise.
Kampfeslustig kam sie näher.
»Und warum nicht? Merk dir eines: Dumm bin ich nicht. Und ich bin auch kein bisschen weniger wert als du, nur weil ich im Land herumziehe und den Menschen mit meinen Karten Freude bereite.« Zu seinem Erschrecken sah Armando, wie sie ihre Bluse öffnete. Estrella lachte über seinen fassungslosen Blick. »Keine Angst, ich will dir nur etwas zeigen. Damit du endlich begreifst, wen du vor dir hast.«
Sie hielt ihm ihre Handfläche entgegen. Er starrte auf den Stein, der im Mondlicht auf ihrer Haut wie ein tiefer grüner See schimmerte.
»Wunderschön! Woher hast du ihn?«, sagte er schließlich.
»Gestohlen natürlich«, erwiderte sie schnippisch. »Nein, von meiner Mutter.« Sie klang auf einmal sehr ernst. »Meiner wahren Mutter. Es ist das Einzige, was sie mir vermacht hat. Eines Tages wird er mich zu ihr führen. Ich weiß es genau.«
»Wo ist deine Mutter?«, fragte Armando. »Wann hast du sie verloren?«
Die Hand klappte zu. Blitzschnell war der Stein wieder in seinem Versteck zwischen ihren Brüsten verschwunden.
»Zu viele Fragen für einen so schönen Abend wie heute«, sagte Estrella. »Die Kirche ist übrigens dort drüben. Nur für den Fall, dass du wieder stundenlang beten willst. Mich findest du einstweilen in der nächsten Schänke.« Sie zog ihre Karten heraus. »Ich halte mich lieber an Menschen, die meine Talente zu würdigen wissen.«
*
Auf dem Rabanal, Juli 1246
Auf der Passhöhe pfiff der Wind so unbarmherzig, dass ihre Kleider flatterten.
»Was sollen wir hier?«, murrte Estrella. »Wieso gehen wir nicht weiter?«
»Das werden wir gleich«, sagte Camino. Er wandte sich zu Pilar, die neben ihm stand. »Jeder Pilger auf dem Weg zu Santiago legt hier einen Stein nieder. Manche sagen, es wären Sorgen, die man damit hinter sich lässt. Andere behaupten, die innigsten Wünsche gingen in Erfüllung.«
Das schlichte Kreuz erhob sich über einem steinbedeckten Hügel. In der Ferne war Hundekläffen zu hören. Zweimal waren sie heute schon einer angriffslustigen Meute ausgewichen.
»Sind es viele?«, fragte Pilar.
»Komm, ich werd es dir zeigen! Irgendwo hier muss auch noch einer von mir herumliegen.«
Er führte sie zum Fuß des Hügels und half ihr, ein Stück hinaufzuklettern. Auf halber Höhe kniete sie nieder und fuhr mit den Händen über den unebenen Grund.
»Ein Meer von Steinen!«, sagte Pilar überrascht.
»Und ebenso viele Wünsche und Hoffnungen«, sagte Camino. »Hier. Nimm! Jetzt bist du an der Reihe!«
Er verriet ihr nicht, dass seine Sorgen damals nicht kleiner geworden waren. Und auch sein Wunsch sich nicht erfüllt hatte, denn er spürte, wie dringend sie Trost brauchte.
Die Oberfläche war körnig und rau. Pilar presste ihre Hand dagegen und ließ abermals den Wunsch in sich aufsteigen, der ihr ganzes Sein erfüllte und immer stärker wurde, je näher sie Santiago kamen.
Die anderen taten es ihr nach; Camino, Moira und als Letzter Armando legten Steine auf den Hügel. Nur Tariq hielt sich abseits, und auch Estrella machte keine Anstalten, ihnen zu folgen.
»Ich halte nichts von solchem Aberglauben«, sagte sie trotzig und sperrte sich.
»Und das sagst ausgerechnet du?«, spottete Moira. »Und deine Karten...«
»Was verstehst du schon davon? Dir würde ich sie nicht einmal legen, wenn du mich auf Knien darum anflehen würdest!«
Nebel senkte sich herab, machte alles plötzlich feucht und klamm. Die Sicht verschlechterte sich zusehends.
»Wir müssen beim Abstieg sehr vorsichtig sein.« Camino übernahm die Führung. »Man sieht kaum weiter als eine Armlänge. Achtet auf eure Füße und passt auf, dass ihr nicht vom Weg abkommt.«
»Nichts als Vorschriften und Verbote«, murmelte Estrella. »Warum bin ich eigentlich
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