Strasse der Sterne
warmer Strom durchflutete! Aber ich vergaß keinen Augenblick, dass es dieses »uns« eigentlich gar nicht geben durfte.
»Nein, und er darf auch nichts erfahren. Niemals, hörst du?« Beschwörend sah ich ihn an. »Du kennst ihn nicht. Diego wäre zu Dingen fähig, die ich mir nicht mal vorstellen möchte.«
Keiner war mir gefolgt. Ich hatte mich bei meinem Weg durch die abendlichen Gassen immer wieder davon überzeugt. Aber es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis Diego endgültig misstrauisch werden würde. Das Leben, zu dem er sich entschlossen hatte, forderte Einschränkungen und Opfer, die er auch von mir erwartete. Für uns beide stand das Consolamentum noch aus, die Feuertaufe, die uns für immer an die Gemeinschaft der Reinen binden würde. Diego träumte seit langem davon, dass wir sie Seite an Seite empfangen würden. Deshalb war die Zeit der Prüfungen, die Endura, die vor mir lag, umso wichtiger. »Dann wird nichts mehr uns trennen können, meine kleine Blanca«, pflegte er zu sagen und sah so glücklich dabei aus, dass ich
kaum noch zu atmen wagte. »Dann sind wir auf ewig im Geist vereint.«
Oswald schien meine Antwort zu irritieren. »Aber er ist doch dein Bruder«, sagte er. »Wie kann er etwas gegen dein Glück haben?«
Was wusste er schon von uns?
Diego entstammte der ersten Ehe unseres Vaters, des Kaufmanns Alfonso Alvar, die er in jungen Jahren mit der noch jüngeren Isabella geschlossen hatte. Seine Frau war im Kindbett gestorben, und es dauerte Jahre, bis er erneut freite, dieses Mal Marisa, meine Mutter. Diego, der die eigene Mutter niemals gekannt hatte, liebte und verehrte sie wie eine Heilige. Als sie schließlich mich zur Welt brachte, schien sein Glück vollkommen. Ich war sein Spielzeug, sein Liebstes, alles, was er besaß. Aber meine Mutter starb während einer Grippeepidemie, die León um die Hälfte dezimierte;
unser Vater erlag nur wenig später dem Schlagfluss. Zurück blieben wir Waisen, zehn und achtzehn Jahre alt.
Blancadiego. Diegoblanca.
Als wären wir ein einziges Wesen und nicht Bruder und Schwester. Diego hatte niemals Anstalten gemacht zu heiraten und mich ebenso wenig dazu gedrängt. Er schien es im Gegenteil zu genießen, jeden Bewerber abzuweisen, der um meine Hand anhielt, auch als er noch nicht von der Lehre der Reinen angezogen war. So vieles verband uns von Anbeginn - und nun vor allem jenes Geheimnis, das uns das Leben kosten konnte.
Ich betrachtete ihn, Oswald, meinen schönen, stolzen Tempelritter, der Gott Keuschheit, Armut und Gehorsam geschworen hatte, bevor er wie ein Blitzschlag in mein Leben gefahren war. Mein Wissen über die Tempelherren war gering, aber ich wusste doch, dass Oswald als Mitglied dieses mächtigen Ordens keiner irdischen Gerechtigkeit Untertan war. Einzig und allein dem Papst schuldete er Rechenschaft. Und jener Gregor IX., der soeben den Heiligen Stuhl in Rom bestiegen hatte, war, wie auch schon seine beiden Vorgänger, der größte Feind der Reinen.
Wie kannst du mir so nah und so fremd zugleich sein?, dachte ich. Aber meine Liebe zu dir ist ein Gebet, das alles andere bedeutungslos macht.
»Seit jeher habe ich auf dich gewartet«, sagte Oswald, als habe er meine Gedanken erraten. »Deshalb habe ich dich sofort erkannt.«
Es war bei meiner Freundin Consuelo gewesen, zu der mich Diego nur noch gehen ließ, um weiteren Gerüchten zuvorzukommen. León war eine Stadt, in der nichts lange unbemerkt blieb. Schon seit einiger Zeit erregte unser abgeschiedener Lebenswandel Aufsehen, wenngleich Diegos wirtschaftliches Geschick allenthalben Anerkennung fand. Es war ihm in jungen Jahren nicht nur gelungen, den väterlichen Tuchhandel erfolgreich auszubauen, sondern das Geschäft durch neue, viel versprechende Waren wie ausgefallene Farbstoffe, Beizen, Zucker und vor allem Papier auszuweiten. Noch schrieb man es dem schweren Schicksal zu, dem frühen Verlust unserer Eltern, der ihn zu schnell erwachsen hatte werden lassen, dass er so in sich gekehrt wirkte und mich zu einem ähnlichen Betragen anhielt. Aber es gab auch schon andere Stimmen, die uns beide für eingebildet und wunderlich erklärten.
Ausgerechnet Consuelo!
Diego verabscheute ihr herausforderndes Lachen, den üppigen Körper, den feinste Materialien raffiniert zur Schau stellten, besonders aber die leicht affektierte Angewohnheit, unversehens loszuträllern. Manuel Esteban, ihr wesentlich älterer Ehemann, handelte mit Silber- und Goldgefäßen und war ein guter
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