Strasse der Sterne
plötzlich einen faden Geschmack im Mund.
»Die Antwortet lautet nein.«
»Und weshalb nicht?«
»Weil sie nicht für Fremde bestimmt ist. Außerdem ist Sor Benita, unsere Bibliothekarin, gestorben, und wir haben noch keine würdige Nachfolgerin gefunden. Seitdem benützen wir sie selber kaum noch. Sogar das Skriptorium ist verwaist.«
»Ich würde bestimmt nichts anfassen«, sagte er. »Nur ein einziger kurzer Blick - bitte! Kannst du nicht bei der Mutter Oberin ein gutes Wort für mich einlegen?«
Er hatte die kleine Frau bislang nur von fern gesehen. Auch die anderen Schwestern hatten für ihn keine Gesichter. Ganz im Gegensatz zu Sor Angelita, in deren offenem
Antlitz ihm mittlerweile jede Regung vertraut war. Jetzt allerdings wirkte es verschlossen.
Sie zuckte unbestimmt die Achseln und ließ ihn stehen.
Drei Tage später wies sie ihn an, die Stauden zu teilen, die dichteren mit einem scharfen Spaten, die zarteren von Hand, eine schweißtreibende Arbeit, die ihn schnell müde und durstig machte. Ein ungewöhnlich warmer Tag. Keine Wolke am dunkelblauen Himmel. Erst goss Armando den lauwarmen Minztee ihn sich hinein, den sie zubereitet hatte. Später jedoch verfiel er auf den Apfelwein, der angenehm kühl und säuerlich schmeckte. Auch Sor Angelita schätzte das leicht prickelnde Getränk und leerte mehrere Gläser davon.
Als Armando das Schutzreisig um die Rosen abgedeckt hatte, kam er an der kleinen Bank vorbei, die an der Grenze zum Blumengarten stand, und stutzte. Sor Angelita ruhte schlafend darauf, den Mund leicht geöffnet. Ihre Nonnenhaube hatte sich leicht verschoben; ein dicker, dunkelblonder Zopf lugte vorwitzig hervor.
Den Gürtel mit den Schlüsseln hatte sie abgelegt. Er lag ein Stück entfernt im Gras. Weit genug, um sich zu nehmen, wonach es ihn schon zu lange gelüstete.
Wie von selbst schoss seine Hand auf das spitze A zu.
Armando löste den Schlüssel vom Bund und verschwand in seiner Unterkunft.
Er wartete, bis das Abendgebet vorüber und alles still im Kloster war, bevor er barfuß in den ersten Stock hinaufschlich. Es war alles andere als einfach, in der einen Hand die Kerze zu halten und mit der anderen das Schlüsselloch zu treffen, aber schließlich gelang es ihm. Die Tür öffnete sich.
Er betrat die Bibliothek.
Das Kerzenlicht erhellte ein hohes, weitläufiges Gewölbe. Als er erkannt hatte, was es barg, entschlüpf t e ihm ein überraschtes Pfeifen.
*
Die Pilgerherberge in Nyon war in erbärmlichem Zustand, das schlechte, viel zu kühle Wetter jedoch zwang sie, dennoch dort zu übernachten. Tariq zeigte sich enttäuscht, dass sie es nicht bis Genf geschaff t hatten; Pilar jedoch war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben, denn der Dauerregen begann sie langsam zu zermürben. Alles war feucht und klamm - Umhang, Kleider, Stiefel. Wasser war in die Vorräte eingedrungen und hatte sie ungenießbar gemacht.
Walli musste sich den Stall mit Schafen und ein paar alten Ziegen teilen, und das Heu, für das sie teuer bezahlten, war stockig und alt. Es gab nur einen Schlafraum, dunkel, eng, ungelüftet, der bereits am frühen Abend überfüllt war.
Camino schaffte es gerade noch, ein Eckchen zu besetzen.
»Mehr ist nicht drin, fürchte ich. Aber es ist so voll, dass wir es wenigstens warm haben werden.«
Er ließ Tariq mit Pilar vorgehen, die in der Gaststube ein undefinierbares Fleischgericht mit dicken Klößen vorgesetzt bekamen. Sie verschlang es hungrig, während der Maure nur mit Widerwillen davon aß. In Regensburg war es ihm manchmal gelungen, im Judenviertel an geschächtetes Fleisch zu kommen. Seitdem sie aber unterwegs waren, hatte er jede Anstrengung in diese Richtung aufgegeben.
»Es ist eindeutig Lamm, Tariq«, sagte Pilar aufmunternd. »Wenngleich lieblos zubereitet und kaum gewürzt. Iss es ruhig. Wer weiß, wann wir wieder etwas Warmes bekommen. «
Danach streckte sie sich auf dem Stroh aus. Zumindest sorgten wuchtige Pfosten dafür, dass die Bettstatt ein Stück vom Boden entfernt war. Tariq hatte sie halblaut darauf aufmerksam gemacht, dass unter ihnen alles mit Sägemehl bestreut war.
»Das bedeutet Wanzen und anderes Ungeziefer«, sagte er angeekelt. »Wird höchste Zeit, dass wir unsere Kleider waschen und trocknen können.«
Sie lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen, die sich bald einstellten, und gab sich Mühe, wach zu bleiben. Irgendwann hörte sie, wie Camino den Raum betrat. Inzwischen konnte sie seinen Schritt von anderen
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