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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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unterscheiden.
    Ob er ahnte, wie sehr sie sich mit ihm beschäftigte?
    Er schien zu zögern, als er näher kam, aber sie hatte ihm keinen Ausweg gelassen. Wenn er diese Nacht nicht stehend verbringen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich direkt neben ihr auszustrecken. Es schien ihm schwer zu fallen, eine bequeme Position zu finden. Er wälzte sich von links nach rechts, bis er schließlich auf dem Rücken lag. Er stöhnte erstickt. Das Essen schien ihm ebenso wenig bekommen zu sein wie ihr.
    »Du kannst auch nicht schlafen?«, wisperte Pilar.
    »Nein«, murmelte er zurück. »Mein Bauch fühlt sich an, als sei er mit Steinen gefüllt.«
    »Wir sind beinahe drei Wochen zusammen unterwegs, und ich weiß immer noch nicht, wer du bist. Lässt du mich dein Gesicht lesen?«
    »Wozu?«
    »Weil es meine Art zu sehen ist.« Hinter ihr begann einer der Liegenden jämmerlich zu husten. Es klang wie das Bellen eines Fuchses, aber irgendwann wurde es wieder still. »Lässt du mich?«
    »Wenn du unbedingt willst.«
    Sie spürte seinen Wunsch, ihr auszuweichen. Doch er hielt still.
    Ihre Finger wanderten prüfend über Stirn, Wangen, Nase, Mund. Sie spürte scharfe Kanten und Mulden, Haut, die in Sonne und Regen rau geworden war, aber auch weiche Stellen, die sich ein bisschen welk anfühlten. Etwas zog sich in ihr zusammen. Er war so aufregend, wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Ob er ahnte, wie sehr er sie verstörte? Jeden- falls schien er sich innerlich zurückzuziehen, je mehr sie von ihm ertastete. Es fiel ihr schwer, die Hände von seinem Gesicht zu nehmen.
    »Wer bist du?«, fragte sie. »Camino ist doch nicht dein wirklicher Name!«
    »Was bedeutet es schon, wie wir heißen? Ist es nicht viel wichtiger, wer wir sind?«
    »Weshalb verweigerst du mir die Wahrheit? Was verbirgst du?«
    »Wahre Worte sind nicht immer schön«, kam es leise zurück. »Und schöne Worte oft nicht wahr. Gib mir noch etwas Zeit. Ich möchte dich nicht verletzen, Pilar. Denn mir liegt viel an dir.«
    Er spürte ihre Not und wünschte sich plötzlich Hände wie Flügel, um sie zu ihren Wangen und ihrer Stirn zu schicken, um sie tröstend auf ihre Lippen zu legen.
    »Wie viel?« Pilars Stimme klang bang.
    »Sehr viel«, sagte Camino. »Aber es gibt nur wenige Dinge, die man ein zweites Mal tun kann. Einmal geschieht es wie von selbst. Dann jedoch ist der Augenblick vorbei.«
    »Ich verstehe deine Rätsel nicht«, sagte sie unglücklich. »Mehr als das: Sie machen mich allmählich wütend. Ich verstehe mich ja selber kaum mehr - seitdem du bei uns bist. Manchmal hasse ich dich regelrecht, weil du all mein Denken und mein Fühlen besetzt. Und dann wieder, da ...« Sie brach ab.
    »Wir werden noch ein gutes Stück Weg zusammen zurücklegen«, sagte er nach einer Weile. »Wir sollten behutsam sein. Meinst du nicht?«
    »Du wirkst so bedrückt. Als läge eine schwere Last auf deinen Schultern.«
    »Da siehst du mehr als viele mit gesunden Augen.«
    »Würde es dir nicht helfen, mit mir darüber zu sprechen?«
    Er blieb stumm.
    »Weil ich nur ein blindes Mädchen bin?«
    »Das spielt für mich keine Rolle!« Er räusperte sich. »Mir fehlt das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Ich bin noch immer unterwegs. Das scheint mein Schicksal zu sein.«
    »Aber da ist etwas zwischen uns«, beharrte Pilar. »Ich kann es spüren. Und du? Spürst du es auch?«
    »Ich weiß. Ein Schatten.«
    »Ein Schatten, ja. Aber er zieht sich zurück, sobald ich die Hände nach ihm ausstrecke. Und er macht mir Angst. Ich komme mir so ohnmächtig vor, so schwach.«
    Er griff nach ihrer Hand. Einen Augenblick lagen ihre Finger leicht verschlungen ineinander. Seine Hand war warm und trocken. Sie spürte die harten Fingerknöchel unter der von Jahren und Wetter gegerbten Haut.
    »Ich verstehe dich gut, denn ich hatte oft Angst, als ich so jung wie du war«, sagte er. »In meinem Alter zieht sie sich langsam zurück, wird unwichtiger, wie so vieles nach und nach an Bedeutung verliert. Die wichtigen Dinge zeigen auf einmal klarere Konturen. Inzwischen hab ich eines gelernt: Leben bedeutet Hoffnung.«
    »Aber wozu denn überhaupt leben, wenn man doch ...«
    Sehr sanft entzog er ihr seine Hand.
    »Hab Geduld, Pilar«, sagte er leise, beinahe zärtlich. »Mit uns. Vor allem mit dir. Du bist so jung. Und noch lange nicht am Ziel.«
     
    *
     
    Kloster Santa Cruz de la Seros, April 1246
     
    Lange hatte Sor Angelita vor der Madonna gekniet. Jetzt erhob sie sich langsam und

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