Strasse der Sterne
schüttelte ihre steifen Beine. Sie seufzte leise, als das Blut in Waden und Schenkeln prickelnd wieder zu zirkulieren begann. Die Mutter Oberin hatte ihr diese nächtlichen Andachtsübungen im Kreuzgang erlaubt, die ihr so viel bedeuteten.
Als Einzige im Kloster kannte sie ihre Geschichte.
Deshalb verstand sie auch, weshalb Angelita Angstzustände bekam, wenn sie sich zu lange in geschlossenen Räumen aufhielt. Nur draußen konnte sie frei atmen. Der Garten war ihre Welt.
Noch einmal beugte sie ihr Knie vor der Marienstatue.
»Ich geh jetzt nach ihm schauen«, sagte sie. »Er müsste eigentlich so weit sein.«
Die Tür zur Bibliothek stand angelehnt. Schon von draußen roch sie das vertraute Aroma. Anfangs hatte sie Hemmungen gehabt, den Ort, der eigentlich für Bücher bestimmt war, für ihre Zwecke zu nutzen, inzwischen aber erschien es ihr ganz selbstverständlich. Und richtig. Schmerzliche Erfahrungen hatten sie gelehrt, dass Liebe die einzige Zukunft war, die Gott den Menschen gab, und zu ihrer Art von Liebe gehörte alles, was wuchs und spross.
Es machte ihr Freude, immer wieder neue Räuchermischungen zu verwenden, den Beifuß aber, den sie heute Morgen verwendet hatte, liebte sie am meisten. Die Mutter aller Kräuter wirkte nicht nur wärmend und beruhigend, sondern half vor allem, Seele und Körper gesunden zu lassen. Angelita hatte es selber erlebt; seitdem schwor sie auf seine heilende Wirkung.
Seine Kerze war verlöscht, ihre jedoch brannte hell genug, um alles mit einem Blick zu umfassen: Armando war im Sitzen eingeschlafen, den Kopf auf dem Schreibpult, mit einem gelösten Gesichtsausdruck, wie ihn sonst nur Kinder hatten.
»War meine Mischung doch ein bisschen stark«, murmelte sie und ihre Finger fuhren zärtlich über eines der Kräuterbüschel. »Ich hoffe, sie schenkt dir wenigstens süße Träume!«
Zu Hunderten hingen sie überall: sorgfältig zusammengestellt, getrocknet und an Fäden geknüpft, Majoran, Schafgarbe, Eisenkraut, Ringelblume, Ackerminze, Tausendgüldenkraut, Hopfen, Taubnessel, Farnkraut, Salbei, Baldrian, Johanniskraut und all die vielen, vielen, die in ihrem Garten wuchsen. Nachdem das Kloster überfallen worden war und alle Bücher den Flammen zum Opfer fielen, hatte sich die Mutter Oberin ihrer ungewöhnlichen Bitte nicht länger widersetzt. Seitdem gab es diesen verborgenen Reichtum, der von Jahr zu Jahr wuchs.
Nach kurzer Überwindung berührte sie das Haar des Schlafenden.
»Alles hat seine Zeit«, flüsterte sie. »Dinge geschehen, das haben mich diese Pflanzen gelehrt. Wer versucht, voreilig einzugreifen, zerstört sie nur.«
Er bewegte sich leicht.
»Du hast so viel Kraft in dir, so viel Lebenslust«, führ sie fort. »Streiten willst du, dich behaupten, erobern. Das ist der Weg des Willens. Viele sind ihn schon vor dir gegangen. Aber dich wird er nirgendwohin führen. Der Weg der Gnade dagegen ...«
Leises Stöhnen kam aus seinem Mund. In seinen Träumen schien er es nicht leicht zu haben.
»Sei ohne Angst!«, sagte sie. »Die Wunder haben bereits begonnen, Armando.«
*
Auf der kastilischen Hochebene, Mai 1246
Als Bettler war Felipe unschlagbar. Niemand verstand es wie er, einen gleichzeitig so mitleiderregenden wie fordernden Ausdruck anzunehmen. Wo die anderen nur ab und zu etwas erhielten, regnete es bei ihm Münzen. Dabei hielt er wenig von diesem »Handwerk«, wie er es nannte, dem er lediglich so lange nachging, bis er endlich das tun durfte, Was er eigentlich tun wollte.
Estrella war ihm in Jaén begegnet, wo sie auf dem Markt Bäuerinnen aus der Umgebung die Karten gelegt hatte. Der Reichtum der Region bestand in ihren Olivenbäumen; silbrig-grüne Haine wellten sich unübersehbar bergauf und bergab. Jedes Kind wusste, wie lange es dauerte, bis sie Früchte trugen, die auch zur Ernte taugten, die ebenfalls langwierig und zudem aufwändig war.
Wie das Land, so die Menschen.
Estrella, sonst an raschen Erfolg gewöhnt, bekam es deutlich zu spüren. Es dauerte unendlich lange, bis sich das erste Mütterchen zu ihr bequemte und aus hellen, misstrauischen Augen ein paar scheele Blicke auf die bunten Bilder warf. Estrella begann zu gurren, zu schmeicheln, zu locken. Und wieder eine halbe Ewigkeit, bis sich die Bäuerin niederließ und ihre Fragen nach der Zukunft stellte.
Hinterher hielt sie ein paar kleine Silbermünzen in der Hand, gerade genug, um sich Schweinebauch, Bohnen und Brot leisten zu können. Glücklicherweise war es warm
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