Strasse der Sterne
hat schon Jesus Essig getrunken. Erinnerst du dich nicht an den Soldaten bei der Kreuzigung, der ihm den Schwamm gereicht hat?«
Armando wurde starr.
Wieso sagte sie das? Und weshalb ausgerechnet jetzt, wo er Abschied nehmen wollte? Würde sie als Nächstes von der Lanze sprechen? Um schließlich auf das Gefäß zu kommen, das Jesu Blut aufgefangen hatte?
Er sah sie an, aber in ihrem offenen Gesicht war keinerlei Hinterhalt zu entdecken. Sein Blick wanderte weiter. Etwas an Sor Angelita war anders als bisher.
Sie hatte die Schlinge abgelegt!
»Ein Versuch«, sagte sie und bewegte vorsichtig den Arm. »Fühlt sich noch ziemlich steif an, aber ich hoffe, es wird wieder.« Jetzt lächelten nur noch ihre Augen. »Du verlässt uns, Amando?«
»Ich muss weiter«, sagte er. »Ich war lange hier.«
»Hoffentlich lang genug. Eigentlich wollte ich dir noch so vieles sagen ...« Sie rührte heftiger, als kämpfe sie gegen böse Geister. »Aber...«
»Ja?« Erwartungsvoll trat er auf sie zu.
»Ich glaube, das Wichtigste hast du ohnehin begriffen. Diese unstillbare Sehnsucht des Lebens nach sich selbst, die du in jedem Kraut erkennen kannst, jedem Käfer, jedem Sandkorn - und natürlich jedem Menschen...«
Sie räusperte sich.
»Du musst wissen, ich war ein sonderbares Kind. Ein Mädchen, das von niemandem geliebt wurde - zumindest war ich davon überzeugt, und deswegen hasste ich die ganze Welt. Ein Mädchen, das beschlossen hatte, sich an allen zu rächen ...« Aus dem Räuspern wurde Husten. »Ich hab damals etwas sehr Schlimmes getan.«
»Du?« Armando schüttelte den Kopf. »Wo du jeder Ameise ausweichst und nicht mal Regenwürmern den Garaus machen kannst? Das glaube ich nicht. Ausgeschlossen! «
» Glaub es ruhig!«, sagte sie. » Genau gegen diese Sehnsucht des Lebens habe ich gefrevelt. Ich konnte nicht ertragen, dass andere glücklich waren, während das Glück mich nicht einmal gestreif t hatte. Und es hat mir sogar Freude bereitet. Weil ich nicht wusste, wie wertvoll Leben an sich ist. Und weil Neid und Schmerz damals die einzigen Gefühle waren, die ich kannte ...«
Zarte Röte kroch über ihre Wangen.
»Natürlich hab ich es bereut - und das tu ich noch immer. Aber es war geschehen und durch nichts mehr rückgängig zu machen. Als ich irgendwann anfing, meinen Frieden zu finden, ist dieses Kloster meine Zuflucht geworden.«
Sie schien in weite Ferne zu blicken. Oder in eine Vergangenheit, die unendlich zurücklag.
»Ohne den Garten in diesen Mauern wäre ich nicht mehr am Leben. Aber wie du siehst, atme ich. Und ich kann dafür sorgen, dass alles um mich herum ebenfalls atmet und lebt. Dafür danke ich der Madonna im Kreuzgang. Tag für Tag.«
Sie ließ den Holzlöffel sinken.
»Jetzt weißt du, weshalb ich so schlecht Büsche ausdünnen kann oder Bäume beschneiden. Jedes Unkraut tut mir in der Seele Leid. Jedes welke Blatt möchte ich am liebsten für immer bewahren. Nicht einmal mein Haar kann ich abschneiden.«
Sor Angelita schnauzte sich kräftig in den Rocksaum.
»Du wirst mir fehlen, Amando! Bitte vergiss uns nicht! Weder die Rosen im Garten noch die Kräuterbüschel oben im Skriptorium und schon gar nicht die seltsame Küchenschwester! Auch nicht, wenn du über den alten Büchern in Juan de la Peña sitzt. Oder auf deinem Ross nach Hause galoppierst.«
»Du weißt, wer ich bin?« In ihren Zügen suchte er nach einer Antwort.
»Ein Suchender.« Sie wandte sich wieder ihrem Essigkrug zu. »Aber das Gefäß ist nicht das Wichtigste. Auch nicht, wer es besitzt.« Er sah ihre Hasenzähne aufblitzen, als sie sich mit einem Lächeln halb zu ihm umdrehte. »Es geht um die Liebe. Um nichts anderes, Amando. Das solltest du nie vergessen.«
*
Le Puy, Mai 1246
Auf den steilen Stufen, die hinauf zur Kathedrale führten, drängten sich Gaukler, Feuerspucker, Bettler. Flehende Hände streckten sich ihnen entgegen. Die unterschiedlichsten Stimmen und Dialekte waren zu hören.
»Wer sind diese Leute?« Pilar hielt ihren Stock mit der Rechten fest umklammert. Sie war erleichtert, dass Camino neben ihr ging. Tariq hatte sich mit Walli und dem Gepäck in einer nah gelegenen Pilgerherberge einquartiert, wo er auf ihre Rückkehr wartete.
»Offensichtlich nicht nur Pilger«, sagte er. »Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass sich hier etwas verdienen lässt.«
»Magst mich nicht auf ein Stündchen besuchen?« Eine junge Frau griff nach seinem Arm. Ihr Kleid war schmutzig; an ihren
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