Straße der Toten
aus.
»Hör zu, ich gebe dir ein bisschen Schießunterricht«, sagte der Reverend. »Morgen früh. Aber ich will kein Geld von dir. Du musst mir einen Gefallen tun.«
»Alles, was Sie wollen.«
»Immer langsam. Willige nie in etwas ein, bevor es dir ganz erklärt worden ist. Sonst fährst du plötzlich fürs Vaterland an die Front, ohne Rückfahrkarte. Hör mir erst mal zu.«
Der Reverend wies mit einer Kopfbewegung auf das Zelt, das neben dem Bett lag.
»Am Samstagabend werde ich eine Predigt halten. Dafür brauche ich ein paar Jungs, die mir das Zelt aufbauen. Ich hab schon welche angeheuert, die es mir hier raufgeschafft haben, aber ihre Arbeitsweise hat mir nicht gefallen. Ich selbst hab nämlich am meisten geschuftet. Und beim Aufbauen will ich bestimmt nicht wieder so einen Haufen Faulenzer dabei haben.«
»Da kann ich mich drum kümmern. Ich kenn welche, die gut arbeiten, und ich ...«
Der Reverend hob die Hand. »Halt, ich bin noch nicht fertig. Ich brauche auch ein paar Jungs, die für mich Handzettel verteilen, sobald ich sie im Zeitungsbüro hab drucken lassen. So werden Ort und Zeit meines Gottesdienstes bekannt gegeben. Kann ich mich darauf verlassen, dass du diese Handzettel verteilen und überall im Ort anschlagen lässt?«
»Das können Sie.«
»Gut. Und jetzt ab mit dir. Ich hab Kopfweh.«
David nickte. »Reverend – ich glaub, Sie haben schon genug Whisky getrunken, meinen Sie nicht auch?«
»Das kann ich selbst am besten beurteilen. Raus mit dir, bevor ich dich vor die Tür setze.«
»Jawohl, Sir.«
»Ach ja, eins noch. Während ich dir Schießunterricht erteile, irgendwo draußen am Waldrand, kannst du mir helfen, ein paar Stangen für das Zelt zurechtzuschnitzen.« Der Reverend stand auf. »Und da, nimm ein bisschen Geld und leih von deinem Papa einen Wagen für uns. Sag ihm, dass ich Arbeit für dich hab. Das wird ihm gefallen. Er wird sich vorstellen, dass ich dich schön zum Schwitzen bringe.«
»Also«, sagte David, »zuerst die Zeltstangen schnitzen, dann das Zelt aufbauen, dann Handzettel verteilen, und einen Wagen mieten – soll ich vielleicht auch gleich noch die Predigt halten, Reverend?«
»Sehr witzig. Du bist ein richtiger kleiner Komiker. Jetzt hau ab.«
David haute ab.
Der Reverend schloss die Tür hinter ihm, setzte sich wieder aufs Bett, griff wieder nach der Flasche. Auf halbem Weg zum Mund hielt er jedoch inne. In Gedanken wiederholte er, was David zu ihm gesagt hatte: »Sie sehen irgendwie, ich weiß nicht, wie etwas Besonderes aus. Als wären Sie wirklich die rechte Hand Gottes ...«
»Verdammt«, sagte der Reverend und stand wieder auf.
Mit der Flasche in der Hand ging er zum Fenster und schaute hinaus. Er sah David die Straße überqueren und noch ein paar andere Fußgänger.
Er drehte sich um und blickte in den Spiegel. Was er da sah, gefiel ihm nicht. Also ging er wieder zum Fenster, goss den Whisky hinaus, zertrümmerte mit dem Revolverkolben die leere Flasche und versenkte sie im Abfalleimer.
Erneut betrachtete er sich im Spiegel. Zwar fand er immer noch keinen Gefallen an dem, was er sah, aber er hatte wenigstens einen Entschluss gefasst. Keinen Whisky mehr, dessen Sklave er geworden war. Er würde nur noch Gott gehorchen. Er würde das sein, was David ihn genannt hatte: »die rechte Hand Gottes«.
Unvermittelt rammte der Reverend eine Faust in den Spiegel und zerschmetterte das Glas, wobei er sich die Hand aufschnitt. All das hatte er schon mehr als einmal gesagt und getan.
Er hielt die verletzte Hand übers Waschbecken und betrachtete sein zersplittertes Spiegelbild. So gefiel er sich besser, irgendwie. »Ich bemühe mich ja, Herr, ich bemühe mich.«
Er wusch sich auf seine langsame, sorgfältige Art die Hände, bis sie sauber waren. Das war wie ein Ritual, um sich von irgendeinem üblen Schleim zu befreien, den er zwar fühlen und riechen, aber nicht sehen konnte.
Und plötzlich erkannte er: Wenn der Herr ihm die dunkelhaarige Frau als eine Prüfung geschickt hatte, dann hatte er ihm David als Beistand geschickt, um ihm Kraft zu geben. Noch war er nicht gänzlich verloren.
Er schaute wieder in den Spiegel, und dieses Mal lachte er und sagte sich: »Der Aufenthalt in diesem verdammten Hotel wird langsam ganz schön teuer.«
Fünf
In einer Kiste oben auf dem Heuboden von Rhines Pferdestall ... lag noch jemand in tiefem Schlummer – in tiefster Finsternis und voller Vorfreude, während eine innere Uhr dem Schwinden des Tageslichts
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