Straße der Toten
dass es scheinbar eine Ewigkeit dauerte, die Kugeln in den Revolver reinzufummeln. Immer wieder schaute er ängstlich zu dem Wolf hinüber. Der Königswolf taumelte langsam rückwärts. Dann blieb er stehen, sein Kopf kippte zur Seite ... und fiel herunter, plumpste auf die Straße und rollte und rollte immer weiter, verlor Haut und Haar, bis nur noch der Schädel übrig war, weiß wie die Unschuld.
Sein Körper sackte in sich zusammen.
Endlich hatten die Kugeln mit den Holzspänen ihr Werk getan.
Der große kalte Schatten löste sich aus dem Boden und machte sich auf der Straße breit. Jebidiah stand auf. Immer dichter wurde der Schatten, bis er ihm über die Brust reichte; dann verflog er und zog ein kühles Lüftchen hinter sich her. Schließlich war alles still. Auf der Straße war nichts mehr, nicht einmal der Schatten, der mit den Bäumen am Ende des Ortes verschmolz.
Der Königswolf war fort. Nur ein kleines Fellbüschel segelte vorbei, streifte Jebidiahs Wange und wurde davongeweht.
Aus dem Hotel kamen die weißen Geister, die sich dort versteckt hatten, unter ihnen Dol, der nicht ganz so flüchtig aussah wie die anderen. Alle Geister stiegen zum Himmel auf, zu den Sternen, und wurden zu einem weichen, weißen Gebilde, das aufwärtsglitt, um sich mit der Milchstraße zu vereinigen. Dann waren sie verschwunden, und die Sterne strahlten wie Dochte an gerade ausgeblasenen Kerzen. Die Sonne ging auf und stand sogleich mitten am Himmel. An einem blauen Himmel. Weiße Wolken wallten überall empor, hielten dann inne und sahen aus wie Berge aus hellem Kartoffelbrei auf einem strahlend blauen Porzellanteller.
Jebidiah hörte ein Geräusch und drehte den Kopf in die Richtung, aus der es kam.
Auf einem Baum am nördlichen Ende der Straße zwitscherten Vögel mit strahlend buntem Gefieder. Es waren so viele, dass Jebidiah zuerst dachte, es seien Herbstblätter – rote, gelbe, blaue und goldfarbene. Plötzlich stoben die Vögel auseinander, als hätte jemand Konfetti in die Luft geworfen, was im strahlenden Sonnenlicht sehr sonderbar und jenseitig wirkte.
Mary fand er im Hotelzimmer. Sie lag auf dem Boden, den Gewehrlauf unterm Kinn. Sie hatte es fertiggebracht, abzudrücken und sich selbst zu erlösen. Er sah auch warum. Ihr ganzer Körper war von Bisswunden bedeckt. Vielleicht hatte sie es gerade noch rechtzeitig geschafft.
Er trug ihren Leichnam nach draußen und brachte auch die Matratze auf die Straße. Dann zerschlug er Stühle aus dem Hotel, entfachte damit ein Feuer, legte die Matratze darauf und erst dann Marys Leiche. Schließlich lehnte er sich gegen die Postkutsche und schaute zu, wie sie verbrannte. Als nichts mehr von ihr übrig war, ging er auf den Hügel und suchte den Friedhof, von dem Dol erzählt hatte. Er fand ihn und auch die leeren Gräber, die zwischen dicht beieinander stehenden Bäumen auf dem Hügel versteckt waren. Die Gräber der Wölfe. Er nahm sein Taschenmesser und suchte sich Eichenholz, das er zurechtschnitzte und mit Fetzen seines Hemdes zu Kreuzen zusammenband. Ein Kreuz für jedes Grab. Nur für alle Fälle. Er riss Seiten aus seiner Bibel und steckte sie in die Gräber. Auch dies nur für alle Fälle.
Jebidiah ging zurück zum Hotel, nahm die Satteltaschen und den Sattel von seinem toten Pferd, warf sich beides über die Schulter, ging wieder hinaus und wandte sich nach Süden.
Über ihm flog eine Krähe – offenbar folgte sie ihm. Sie warf einen langen Schatten.
DER SCHLEICHENDE HIMMEL
Erstes Kapitel
Wood Tick
Reverend Jebidiah Mercer ritt auf einem ebenholzfarbenen Pferd in Wood Tick ein. Wood Tick war keine richtige Ortschaft, sondern eher eine breite Schneise im Wald. Es war ein kühler Herbsttag, und der Himmel war bedeckt. Die stahlgrauen Wolken trieben langsam über ihm dahin – sie schienen regelrecht zu schleichen. Der Reverend wusste aus Erfahrung, dass ein Himmel mit schleichenden Wolken nichts Gutes verhieß. Sie waren ein Omen, und Jebidiah mochte keine Omen, denn so weit er zurückdachte, hatten Omen noch nie etwas Gutes bedeutet.
Die Siedlung, die vor ihm lag, hätte nicht erbärmlicher sein können. Sie bestand aus einem schmalen Lehmweg und nur wenigen Gebäuden, die nicht so sehr errichtet worden, sondern eher hingeworfen zu sein schienen. Insgesamt waren es sechs Häuser, von denen sich drei in Richtung Süden neigten, weil sie der Nordwind in diese Richtung gedrückt hatte. Eines der Häuser hatte einst einen steinernen Kamin besessen, doch der
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