Straße der Toten
Schornstein war runtergestürzt, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn wieder aufzubauen. Wie ausgeworfene Patronenhülsen lagen die Steine auf dem Boden verstreut. Dazwischen war Gras gewachsen, ausgebleicht und vertrocknet, und sogar ein kleines Bäumchen war zwischen ihnen emporgesprossen. Wo einst der Schornstein gestanden hatte, war eine Stoffbahn gespannt, wahrscheinlich ein Stück von einem Zelt, das nun die entstandene Lücke überdeckte. Das Gewebe war angenagelt worden und aufgrund der Witterung mittlerweile schwarz angelaufen.
Mitten in der Siedlung stand ein Fuhrwerk, auf dem hölzerne Balken einen Käfig mit einem schweren, flachen Dach darauf bildeten. Es waren keine Pferde angespannt, und die Deichsel ruhte auf dem Boden, weswegen der Wagen eine ähnliche Schieflage hatte wie die Häuser. Im Inneren des Wagens hielt ein Mann fluchend die Balken umklammert, weil ein halbes Dutzend Jungs, die aussahen, als würden sie zu ziemlich hässlichen Männern heranwachsen, ihn mit Steinen bewarfen. Und auf einer wackligen Veranda vor einem der schiefen Häuser saß ein alter Mann, der an einem Knüppel herumschnitzte. Die wenigen anderen Menschen, die auf der Straße unterwegs waren und sich mit dem Elan von Todkranken bewegten, beachteten weder die Jungen noch den Mann in dem verschlossenen Gefährt.
Reverend Mercer stieg von seinem Pferd, band es vor der durchhängenden Veranda an die Pferdestange und betrachtete den schnitzenden Mann eingehend. Dem Alten war seitlich am Hals ein Geschwür gewachsen, das er mit einem schmutzigen Säckchen abgedeckt und dieses so am Kopf festgebunden hatte, dass die Enden des Tuchs unter seinem Kinn und oben zwischen Kopf und Hut verschwanden. Der ausladende Hut warf einen Schatten auf sein Gesicht, das wahrhaftig versteckt zu werden verdiente, denn die Gesichtszüge des Mannes ließen nicht nur Kinder zurückschrecken. Wenn es darum ging, etwas Hässliches zu erschaffen, war Gott wirklich großartig.
»Darf ich Sie was fragen, Sir?«, sprach der Reverend den schnitzenden Mann an.
»Denke schon.«
»Warum steckt der Mann dort in dem Käfig?«
»Das ist der Knast von Wood Tick. Was anderes haben wir nicht. Wir haben schon überlegt, einen zu bauen, aber so oft brauchen wir keine Zelle. Wenn hier jemand was wirklich Schlimmes anstellt, knüpfen wir ihn auf.«
»Was hat der Gefangene getan?«
»Er ist nur schwachsinnig.«
»Ist das ein Verbrechen?«
»Wenn wir das wollen, schon. Vielleicht wird er langsam alt und redet einfach dummes Zeug. Früher war er mal ganz in Ordnung, aber das ist eine Weile her. Wir wissen nicht, was ihn plagt, aber er erzählt Geschichten über Geister. Seine Frau ist ihm weggelaufen, und er schwört, dass irgendwelche Geister sie geholt haben.«
»Geister?«
»Ganz genau.«
Der Reverend blickte zu den Jungen, die weiter Steine schleuderten, und dem Käfig hinüber. Die Steine trafen genau und mit ziemlicher Wucht.
»Steine auf ihn werfen zu lassen, macht es bestimmt nicht besser«, sagte der Reverend.
»Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass er schwachsinnig ist und als Zielscheibe für Steine dient, hätte er ihn bestimmt klüger gemacht und weniger anfällig für dummes Zeug.«
»Als ein Mann Gottes muss ich Ihnen beipflichten. Gottes Wege lassen nur wenig Mitleid zu. Aber wir Menschen wissen es besser. Wir könnten den armen Sünder doch wenigstens vor den Steinwürfen der Kinder bewahren.«
»Der Sheriff sieht das anders.«
»Und wer ist der Sheriff?«
»Das bin ich. Sie werden mir doch keinen Ärger machen, oder?«
»Ich bin nur der Meinung, dass ein Mann nicht eingesperrt und mit Steinen beworfen werden sollte, nur weil er schwachsinnig ist.«
»Ach ja? Sie können ihn gern mitnehmen, aber nur wenn Sie versprechen, dass Sie ihn nicht wieder zurückbringen. Dann lass ich ihn frei.«
Der Reverend nickte. »Das kann ich tun, aber zuerst brauche ich etwas zu essen. Ob ich hier wohl irgendwo etwas bekomme?«
»Sie können zu Miss Mary gehn, ihr Haus steht ’ne Meile außerhalb der Ortschaft. Wenn Sie dafür zahlen, wird Sie Ihnen was machen. Aber Sie brauchen ’nen starken Magen.«
»Das klingt nicht gerade nach einer Empfehlung.«
»Isses auch nicht. Ich könnt Ihnen ja selber ’n Stück Fleisch in die Pfanne hauen, wenn Sie ’n bisschen was dafür springen lassen.«
»Geld habe ich.«
»Gut. Ich hab keins. Aber ich hab Pferdefleisch, das ich Ihnen zubereiten kann. Man kann’s grad noch so essen. Wenn Sie allerdings
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