Straße ins Nichts (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
Heroin gesetzt hatte oder bei einem Raubüberfall niedergeschossen worden war. Beziehungsweise vergeblich auf einen Ladenbesitzer einzureden und ihm zu versichern, dass er sich nicht zu Tode schämen müsste, nachdem man ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen hatte, niederzuknien und um sein Leben zu betteln. Und ich wollte auch nie wieder die Gesichter der Frauen vor mir sehen, die man vergewaltigt, geschändet, mit Zigaretten verbrannt und mit Fäusten traktiert, denen man vorsätzlich und mit Bedacht jeden Funken Würde und Selbstachtung genommen hatte.
Wenn man mit altgedienten Cops zusammentrifft, die weder trinken noch Drogen nehmen, sind sie entweder in einer Selbsthilfegruppe, abgestumpft oder ihrerseits nicht gegen kriminelle Versuchungen gefeit.
Aber jedes Mal, wenn ich den Kopf halbwegs frei bekam und mir all die angenehmen Seiten des Daseins vor Augen führen wollte – die aus heiterem Himmel niedergehenden Regenschauer, die vom Golf aufzogen, die gemeinsamen Mittagessen mit Bootsie bei Victor’s oder die Picknicks im Park, die langen Sommerabende, wenn sich die Sonnenglut über den ganzen Himmel ausbreitete, die Abende, an denen ich Alafair in der Stadtbibliothek abholte und mit ihr und ihren Mitschülern aus dem Literaturkurs Eis essen ging –, musste ich wieder an meine Mutter denken, an die flehentlichen Bitten und die Hilferufe, die sie ausgestoßen haben musste, und daran, dass ihre Mörder immer noch auf freiem Fuß waren.
Aber nicht nur das Schicksal meiner Mutter trieb mich um. Ich hatte mich längst damit abgefunden, dass ich meine leiblichen Angehörigen verloren hatte, dass meine Kindheit dahin und die unberührte Welt der Cajuns, in die ich geboren worden war, für immer vergangen war. Man muss mit dem Verlust genauso umgehen wie mit dem Tod. Keiner ist davor gefeit, und dennoch darf man nicht sein ganzes Leben darauf ausrichten.
Was ich jetzt empfand, war nicht Verlust, sondern Diebstahl und Schändung. Man hatte mir das Andenken an meine Mutter gestohlen, den traurigen Respekt, den ich immer vor ihr gehabt hatte. Jetzt lag in einem Aktenordner bei der Polizei in New Orleans eine Kassette mit lauter Lügen, besprochen von einem inzwischen toten Gauner in dem Gefängnis von Morgan City, der behauptete, meine Mutter wäre eine Hure und Trickdiebin gewesen, und ich konnte nichts daran ändern.
Helen Soileau kam in mein Büro. »Macht dir irgendwas zu schaffen?«, sagte sie.
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte ich.
Sie trat ans Fenster, rieb sich den Nacken und schaute hinaus auf die Straße.
»Connie Deshotel scheint irgendwie abgetaucht zu sein«, sagte sie. »Hat sie sich nicht drüber aufgeregt, dass sie mit zwei Zuhältern fotografiert worden ist?«
»Sie hat sich jedenfalls nichts anmerken lassen«, sagte ich und lehnte mich in meinem Sessel zurück.
»Sie war in ihrem Büro. Dort hat sie alle Macht in Händen. Lass dich von der nicht täuschen, Dave. Die Braut hat dich auf dem Kieker.«
Aber es war Freitagnachmittag, und ich wollte nicht mehr über Connie Deshotel nachdenken. Ich meldete mich ab, kaufte auf dem Markt ein Baguette und fuhr den Feldweg zu meinem Haus entlang, unter den Eichen hindurch, durch deren Zweige die Sonne funkelte, die wie eine Scheibe aus getriebenem Messing am Himmel stand.
Alafair, Bootsie und ich aßen am Küchentisch zu Abend. Am Himmel draußen vor dem Fenster türmten sich hohe Gewitterwolken auf, durch die vereinzelte Sonnenstrahlen auf das Zuckerrohrfeld meines Nachbarn fielen. Alafair hatte beim Essen ihre Büchertasche neben dem Stuhl stehen. In ihr waren ihre Kurzgeschichten verstaut, das Notizbuch, die Filzstifte und ein Ratgeber für angehende Drehbuchautoren. Neben ihrem Ellbogen lag ein dickes Taschenbuch mit einem Schwarzweißfoto von einer Blockhütte auf dem Umschlag.
»Was liest du da?«, fragte ich.
» Night Comes to the Cumberland. Von Harry Caudill, einem Anwalt. Es ist eine historische Abhandlung über das Leben in den Bergen hier im Süden«, sagte sie.
»Für deinen Literaturkurs?«, fragte ich.
»Nein, ein Junge, den ich in der Bibliothek kennen gelernt habe, hat gesagt, ich sollte es lesen. Es wäre das beste Buch, das je über die Menschen in den Appalachen geschrieben worden wäre«, erwiderte sie.
»Liest du heute Abend deine neue Geschichte vor?«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie lächelnd. »Übrigens werde ich heute Abend vielleicht nach Hause gebracht.«
»Von wem?«, sagte Bootsie.
»Von diesem
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