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Straße nach überallhin

Straße nach überallhin

Titel: Straße nach überallhin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Zelazny
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finden. Aber Randy hatte die Falle gerochen. Er wollte sich noch nicht fest binden. Ihre Übereinkunft war gut gewesen, und sie hatte sein sprunghaftes Temperament berücksichtigt. Mit ihrem Angebot hatte sie versucht, die Regeln zu ändern, und dafür war er noch nicht bereit gewesen. In irgendeiner Hinterkammer seines Verstandes lauerte immer noch der Gedanke an die Suche, wenn auch das Alter seinen jugendlichen Eifer getrübt hatte. Er wollte noch so viel tun, bevor er sich niederließ. Nein. Sie hatte angeboten, er hatte abgelehnt. Etwas hatte sich verändert. Ein merkwürdiges Gefühl hatte sich eingestellt. Es war vorbei.
    Er ging ans Fenster und sah hinaus. Drei Blocks weiter begann das Gelände des Campus. Er trug ein T-Shirt, Bermudahosen und Sandalen. Die Menschen unten auf der Straße waren ähnlich gekleidet. Es war ein strahlender, sonniger Tag gewesen, der die Verheißung auf viele weitere solcher Tage mit sich gebracht hatte. Die Haut unter den rötlichen Härchen war kupferrot. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie war feucht. Er preßte das Glas gegen seine Wangen und betrachtete die Vorgärten, die geparkten Wagen, die vorbeifahrenden Autos und Fahrräder. Insekten summten in den Bäumen. Eine rötliche Katze leckte ein Eis auf, das auf den Bordstein gefallen war.
    Vorbei … Er konnte wieder als Konstrukteur arbeiten, wenn er nach Cleveland zurückkehren wollte. Aber das war nicht gut. Er hätte unter Umständen zu Hause wohnen müssen – und Mr. Schelling war ihm bisher immer aus dem Weg gegangen, um noch zu unterstreichen, wie sehr er sich das wünschte. Und selbst wenn er eine eigene Wohnung fand, würde es keine Ruhe geben. Er hatte den Mann zweimal getroffen und konnte es nicht über sich bringen, ihn anders als „Mr. Schelling“ zu nennen, obwohl er jetzt schon fast sechs Monate lang mit Randys Mutter verheiratet war. Nicht daß er den Mann, nicht gemocht hätte. Er kannte ihn einfach nicht und verspürte auch keinen dementsprechenden Wunsch. Nein, nicht zurück. Auch das war vorbei.
    Er nippte an seinem Tee und ging ins Schlafzimmer. Zu heiß zum Nachdenken. Er war bis spät in die Nacht weggewesen und früh wieder aufgestanden. Auf das Bett legen und auf eine kühle Brise hoffen, vielleicht kam ihm dann ein Einfall für einen Ferienjob und für sein Studium klassischer Sprachen. Oder sollte er im Herbst mit Linguistik beginnen? Oder mit romanischen Sprachen? Es wäre sicher hübsch, herumzureisen, als Sekretär oder als Dolmetscher …
    Als er am Bücherregal vorbeikam, griff seine Hand ohne zu zögern nach der Ausgabe von Leaves of Grass.
    Also hatten die Gedanken an die Suche, das Versprechen, doch irgendwo in seinem Hinterkopf herumgespukt …
    Er nahm das Buch mit ins Schlafzimmer. Er brauchte etwas, um sich abzulenken; da war das vielleicht das beste.
    Er polsterte sich mit Kissen und schlug das Buch auf. Die Faszination, die es auf ihn ausgeübt hatte, war merkwürdig. Den ganzen Sommer über hatte er sie bewußt ignorieren müssen, denn jedesmal, wenn er am Regal vorbeigekommen war, hatte das Buch seinen Blick auf sich gezogen. Es war der einzige Gegenstand, den er besaß, der seinem Vater gehört hatte.
    Als er zu lesen aufhörte, war es bereits dunkel, und das Nachttischlämpchen brannte. Die Ränder von seinem Glas waren noch nicht verdampft, sondern bildeten ein seltsames Kreismuster auf der Oberfläche. Er dachte an seinen Vater, den er nie gesehen hatte. Paul Carthage hatte nur kurz mit seiner Mutter zusammengelebt und war verschwunden, noch bevor sie von ihrer Schwangerschaft gewußt hatte. Wo war er jetzt? Vielleicht war er tot. Er konnte überall stecken. Randy blätterte bis zur letzten Seite des Buches, wo er die einzige Fotografie aufbewahrte, die er besaß. Das Bild zeigte einen breitschultrigen Mann mit großen Händen und lockigem Haar. Er hatte buschige Brauen, rauhe, aber regelmäßige Züge, und er lächelte, obwohl er sich in dem Anzug mit der Krawatte offensichtlich unwohl fühlte. Transportgeschäft … Er hatte Nora erzählt, er sei in der Transportbranche tätig. Das konnte alles möglich sein, vom Taxifahrer bis zum Flugzeugpiloten. Randy verglich dieses Gesicht mit seinem und wandte sich rasch ab. Er mußte ihn finden. Er wollte ihn sehen, mit ihm sprechen und erfahren, was er war, woher er gekommen war und was er tat. Und ob er noch andere Kinder gezeugt hatte und wie sie aussahen. Paul Carthage … Er fragte sich, ob das überhaupt sein

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