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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Fall hatte das Buch genug Format, um nachhaltig zu beeindrucken, wie wir damals auf dem College meinten. Mir kam die Idee, es noch einmal zu lesen, bevor ich nach Holcomb fuhr, um vor Ort treffende Beobachtungen über Kriminalität und Gewalt in Amerika anzustellen.
    Das hätte ich mir sparen können. Mir wurde bald klar, dass an den Clutter-Morden nichts Besonderes war. Sie würden heute ebenso schockieren wie damals. Auch Capotes Buch hatte nichts Herausragendes. Im Großen und Ganzen war es nichts weiter als eine grausige, sensationslüsterne Mordgeschichte, die
auf eine raffiniert ehrbare Weise an die niederen Instinkte ihrer Leser appellierte. Bei einer Fahrt nach Holcomb würde nicht viel mehr herauskommen, als dass mir beim Anblick eines Hauses, in dem vor langer Zeit eine Familie sinnlos niedergemetzelt worden war, ein Schauer des Entsetzens über den Rücken lief. Aber was will man schließlich mehr vom Leben? Zumindest versprach das Mordhaus interessanter zu sein als die Historic Front Street in Dodge City.
    Capote stellte Holcomb als staubiges Kaff dar, dessen durch und durch anständige Bürger nicht rauchten, nicht tranken, nicht logen, nicht fluchten und keinen Gottesdienst versäumten, als einen Ort, in dem außerehelicher Sex eine Todsünde und vorehelicher Sex undenkbar war, in dem Kinder unter zwanzig Jahren an jedem Samstagabend punkt elf zu Hause zu sein hatten, in dem Katholiken und Methodisten möglichst jeden Umgang mieden, in dem alle Türen stets unverschlossen blieben und in dem elf- oder zwölfjährige Kinder Autos fahren durften. Aus irgendeinem Grund fand ich die Vorstellung, dass dort Kinder hinterm Steuer saßen, besonders erstaunlich.
    In Capotes Buch lag die nächste Stadt, Garden City, fünf Meilen entfernt. Offensichtlich hatte sich seither vieles verändert. Holcomb und Garden City waren inzwischen mehr oder weniger zusammengewachsen, verbunden durch eine Nabelschnur aus Tankstellen und Fastfood-Restaurants. Holcomb war noch immer staubig, aber kein Kaff mehr. Am Stadtrand stand eine riesige Highschool. Sie war unverkennbar jüngeren Datums. Rund um die Highschool gruppierten sich kleine billige Häuschen, ebenfalls Neubauten, in deren Vorgärten barfüßige mexikanische Kinder spielten. Ich fand das Clutter-Haus ohne große Mühe. Während es im Roman hieß, es stünde außerhalb von Holcomb an einer Allee, waren die Baumreihen heute langen Häuserzeilen gewichen. Das Clutter-Haus schien nicht bewohnt zu sein. Die Gardinen waren zugezogen. Ich zögerte lange, trat dann doch vor die Haustür, klopfte an und war erleichtert,
als niemand öffnete. Was hätte ich auch sagen sollen? Hallo, ich bin ein Fremder auf der Durchreise und komme, getrieben von einem morbiden Interesse an Aufsehen erregenden Morden, und will wissen, wie es sich in einem Haus lebt, in dem einmal mehreren Menschen das Gehirn aus dem Kopf geblasen wurde? Denken Sie manchmal noch daran, zum Beispiel beim Essen?
    Ich stieg wieder ins Auto und machte mich auf die Suche nach Orten, die in Capotes Buch erwähnt wurden. Doch die Geschäfte und Cafés waren entweder verschwunden oder hatten ihre Namen geändert. Vor der Highschool hielt ich an. Der Haupteingang war verschlossen – es war vier Uhr nachmittags –, doch auf dem Sportplatz entdeckte ich einige Schüler beim Leichtathletiktraining. Zwei standen untätig auf dem Gelände herum. Ich ging auf sie zu und fragte sie, ob ich mit ihnen über die Clutter-Morde sprechen könnte. Ich merkte sofort, dass sie nicht wussten, wovon die Rede war.
    »Ich meine die Morde aus dem Roman Kaltblütig«, half ich ihnen auf die Sprünge. »Das Buch von Truman Capote.
    Sie sahen mich verständnislos an.
    »Habt ihr noch nie von Kaltblütig gehört? Oder von Truman Capote?« Sie kannten weder Buch noch Autor. Ich konnte es kaum glauben. »Aber von den Clutter-Morden habt ihr doch sicher gehört? Eine ganze Familie wurde damals getötet. In einem Haus da drüben, hinter dem Wasserturm.«
    Einem der beiden ging ein Licht auf. »Oh, yeah«, sagte er. »’ne ganze Familie einfach ausgelöscht. Das war, you know, richtig unheimlich.«
    »Lebt heute jemand in dem Haus?«
    »Keine Ahnung«, antwortete er. »Da hat mal jemand drin gewohnt, glaube ich. Aber heute wohnen die da, glaube ich, nicht mehr drin. Weiß nicht genau.« Reden war wohl nicht gerade seine starke Seite. Verglichen mit dem zweiten war er allerdings ein wahrer Cicero. Ich überlegte, ob mir jemals zwei so ungebildete

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